Schnipsel 191: Triton

Fotos v.l.n.r.: Die Himmelsscheibe von Nebra, veröffentlicht von Anagoria: Himmelsscheibe von Nebra sky disk anagoria (CC BY 3.0); Neptun und sein Mond Triton fotografiert von Voyager 2 1989 (als NASA-Bild unter einer public domain Lizenz auf Wikimedia Commons zu finden ebenso wie die Ablichtung der goldenen Schallplatte des NASA Voyager Projekts).

ΔΑΙΜΩΝ, Dämon

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

 

Goethes ca. 200 Jahre altes Daimon Gedicht aus der Sammlung "Urworte. Orphisch" lernte ich von einem befreundeten Studentenpaar zu einer Zeit meines Studiums kennen, als ich es bereits längst hätte kennen müssen. Der Klarheit, aber auch Wucht der Feststellung einer unausweichlichen Ankettung an das eigene Wesen musste ich damals zunächst fassungslose Sprachlosigkeit zollen. Das Bild der weiten Perspektive auf die übergeordnete Sternenkonstellation zurzeit der Geburt mit der atemberaubenden Formulierung "Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten" lässt mich bis heute nicht unberührt. In manchen Träumen sehe ich Planetenbahnen, riesige Gravitationsbewegungen oder absolut unvertraute Horizonte mit seltsamen Trabanten oft anmaßender Größe. Vielleicht bin ich deshalb bis heute sensibilisiert auf Hinweise in Bildern, Wörtern, Textstellen, die auf die großen Bahnen und Gebilde um uns herum verweisen in ihren nur scheinbar ewigen Bewegungsharmonien. Professor Glück wies auf Johannes Keplers Begeisterung für die Idee der Sphärenmusik hin, das Laternenlied zu Sankt Martin besitzt einen der schönsten Riffs der Kindheit: "Sonne, Mond und Sterne". Jedes Mal bin ich erstaunt, wie alt das Wissen der Menschen um den Nachthimmel ist, in welch unterschiedlichen Ideen es sich in der menschlichen Bearbeitung oder Abbildung findet. Ich bin mir nicht sicher, glaube mich aber an eine Dokumentation über die Anordnung der Pyramiden in Korrespondenz zu Sternbildern zu erinnern, eine weitere über den Fund eines antiken Räderwerks kosmischer und kalendarischer Abläufe, des sogenannten Mechanismus von Antikythera und schließlich des Sensationsfundes der sogenannten Himmelsscheibe von Nebra in der Nähe von Halle, deren Fund wie auch Entschlüsselung den Stoff für mehrere Krimis liefern würde.

Der Thematik ist mein begrenzter Speicher für mathematische oder physikalische Fakten nicht gewachsen, nur meine Bewunderung. Die großen Entwicklungen der Erkenntnis unseres Verständnisses für den stellaren Ort, auf dem wir unsere Schicksale verbringen, mit den großen Namen der Antike und Renaissance lerne ich zyklisch immer wieder neu, und jedes Mal wieder aufs Neue überrascht mich, wenn ich dieses Wissen in alten und ältesten Texten wie selbstverständlich wiederfinde …

Ich hätte einmal Geoffrey Chaucers "The Canterbury Tales" lesen sollen, hatte aber diese Lektüre dem Mut der Lücke zugeordnet, die späterhin zu schließen wäre. Jetzt war die Zeit und wie faszinierte mich das Spektrum dieser mittelenglischen Fabulierfreude von der Zote bis zur hohen Lebensphilosophie.

 

Thanne is it wysdom, as it thynketh me,

To maken vertu of necessitee.

 

Hat sich in der Weisheit so viel bis heute verändert, dass wir es als klug erachten sollten, Dinge, die wir nicht verändern können, als gegeben hinzunehmen? Die Dinge im ewigen Wandel und der eigenen Endlichkeit zu begreifen, es sind die ewigen Wahrheiten unserer Selbstwahrnehmung:  Thanne may ye se that al this thyng hath ende. Die Welt ist ein Ort des Durchgangs: This world nys but a thurghfare ful of wo, / And we been pilgrymes, passynge to and fro.

Die Abläufe unseres Lebens sieht die Philosophie der Geschichte des Ritters an das Schicksal gekettet. Der göttlichen Allmacht oder dem Schicksal wird eine Art regulierende Instanz, destinee, zwischengeschaltet, aber trotzdem bleibt der Mensch an die große Überordnung gebunden … und diese findet Ausdruck in der kosmischen Sternenkonstellation z.B. eines myghty Mars the rede oder Saturne, by som constellacioun. Kon-Stellare-Relationen nehmen ihre Wirkungsmacht auf und es bleibt für den Menschen der Chaucer’schen Ritter-Erzählung nur zu konstatieren: As - whan a thyng is shapen, it shal be …

Natürlich war ich nach den letzten Zehner-Schnipseln auf solche Textstellen konditioniert. Dort fand sich auch ein Sternenfeld / Compostela und gedankliche Spielarten rund um das Thema des Schicksals. Es scheint, als sei die Suche des Menschen, sein Wesen und sein Wunsch, seine Rolle im Weltgebilde zu positionieren und zu begreifen, untrennbar mit den ihn umgebenden Himmelskörpern des Nacht- und Taghimmels verbunden. Die Namen, die wir den Planeten und Trabanten gegeben haben, finden sich überall, wo wir in unserem Alltag zeitliche Ordnung und Abfolgen etablieren wollen. Auch wenn wir vielleicht das unmittelbare Erleben eines kaum mehr sichtbaren weiten Nachthimmels verlieren, bleibt unser Begreifen an die runden Kugeln um uns gekoppelt und sei es in der abgemilderten Form einer allgegenwärtigen Symbolik von Ringen und Kreisen. Manchmal beneide ich die Menschen, denen ihr Verständnis für Zahlen und Naturwissenschaften Räume eröffnet, in denen die Entwicklungsmöglichkeiten größer und raumgreifender zu sein scheinen, als in der Philosophie bzw. der Philosophie, die ich noch nachvollziehen kann.

Worum es in diesem Text geht? Einer der beeindruckendsten Projekte unserer Fähigkeiten, der Voyager Mission der NASA, die in einer beeindruckenden Arte-Dokumentation zu sehen ist: "Voyagers Reise in die Unendlichkeit". Anfang der 1970er Jahre begreift man, dass durch eine seltene Planeten-Konstellation der damaligen Technik eine Möglichkeit eröffnet wird, eine Sonde zu den äußeren Planeten unseres Sonnensystems zu bringen, um sie anschließend mit dem letzten Schwung in den interstellaren Raum zu befördern. Am Ende ihrer Mission blicken die Kameras der Voyager-Sonde noch einmal zurück und zeigen unseren letzten Planeten Neptun mit seinem Mond Triton. Es ist eine neue Perspektive, eine erreichte Grenze, die durchbrochen wird. An den Sonden der Voyager-Mission wurde eine goldene Schallplatte angebracht, auf der Dokumente unserer Kultur, unserer Sprachen im Gruße an eine mögliche Begegnung sowie Bilder und Fakten unseres Planeten und Lebensraums festgehalten sind. Diese Schallplatte hat möglicherweise eine längere Perspektive auf Dauer als alles, was in unserem Planetensystem nur befristeten Bestand hat. Der letzte Blick zurück hat ein Foto hervorgebracht, das den Titel "Pale Blue Dot" trägt. Ein kleiner Staubfleck weniger als ein Pixel groß zeigt die Erde in einem Sonnenstrahl. Die Worte, die Carl Sagan auf der Pressekonferenz der Veröffentlichung dieses Fotos findet, sollte man selbst hören.

Whan a thyng is shapen, it shal be - trotzdem sollten wir uns überlegen, ob wir nicht für die Gestaltung unseres kleinen Lebensraumes Verantwortung übernehmen sollten, um den begrenzten Zeitraum seiner Existenz so lange wie möglich bewohnbar zu belassen, für alle Lebewesen, die sich hier eingefunden haben.

 

Whan that April with his shoures soote …

Fotos v.l.n.r.: Geoffrey Chaucer porträtiert von Thomas Hoccleve; Pale Blue Dot und Voyager 2 (alle auf Wikimedia Commons , public domain).

Schnipsel 192: De te fabula narratur

Foto: Elio Pallard: La Sacra ammantata dalla neve (CC BY-SA 4.0)

87, 88, 128, 173 … die Rache am italienischen Faschismus, die Petrus Ikonographie (in 88 bereits ein Hinweis auf Dan Brown und Umberto Eco), die umgekehrte Kirche von Gryphius, Dickens Pip, Büchners Lenz, vielleicht die Pferde Swifts, Bloom und Molly und ein altes ägyptisches Papyrus, der Protest gegen Macron … 

Das Motiv des "Kopfüber" verfolgt mich. Hinzu kommt das Buchcover Nick Flynns Buchs "Stay – Threads, Conversations, Collaborations" sowie ein Hinweis auf den Medusenkopf in der Cisterna Basilica in eben Dan Browns Roman "Inferno" und dann schließlich das Motiv in seiner Vollendung bei Umberto Eco in "Der Name der Rose" … doch der Reihe nach, fangen wir mit dem Ende Ecos Roman an:

Spätestens mit den Worten des Ich-Erzählers Adson von Melk (die Umstände seines Versuchs, untergegangenes Wissen zu sammeln und zu bewahren, würde zu vieles verraten) "tolle et lege!" – "nimm und lies" – und schließlich: "Am Ende meiner geduldigen Rekonstruktionsbemühungen zeichnete sich vor meinen Augen so etwas wie eine kleine Bibliothek als Zeichen jener verschwundenen großen ab, eine Bibliothek aus Schnipseln, Fragmenten, Zitaten, unvollständigen Sätzen, Ruinen und Torsi von Büchner" hat sich Eco in mein Herz geschrieben, selbst wenn ich bereits während des Lesens die Überzeugung gewonnen hatte, eines der reichsten Bücher in den Händen zu halten, das zudem den doppelten Köder auswirft: De te fabula narratur; und ja, die Geschichte handelt von mir und erklärt mir den inneren Kampf, wenn Rebellion sich versucht in die geordneten Bahnen der angepassten Systemtreue zum Überwintern einzunisten, sie erklärt vielleicht auch die Wurzeln des Brodelns einer Aufsässigkeit gegen Besitzstandsungerechtigkeit, Ausbeutung und  Machtmissbrauch, sie erklärt die Geschichte des Aufbegehrens und vielleicht - für diese Feststellung bin ich zu wenig Historiker - wie früh wir die Anfänge oder vielleicht Vorläufer der Idee des Anarchismus in den Blick nehmen können.

Umberto Eco siedelt seinen Mittelalter-"Krimi" vor dem Hintergrund des großen Armutsstreits an. Es gibt ein Auftreten gleich mehrerer den Pomp und Reichtum kirchlicher Würden ablehnenden Ordensbewegungen, die sich dem Prinzip der Bescheidenheit und Beschränkung auf das Notwendige verpflichtet sehen. Einzelne Gruppierungen fanatischer Prediger werden aufs bitterste niedergerungen, andere sind bereits auf dem Weg, zu einflussreichen Institutionen zu werden wie der Orden der Franziskaner, der im Dunst einer nie ungefährlichen päpstlichen Diplomatie versucht wird in Zaum gehalten zu werden. Das Gegenbild einer zufriedenen Einschränkung auf das Wesentliche besitzt für die kirchlichen Unternehmensverwalter ein allzu großes Potential subversiver Zerstörungskraft, die am Ende ein ganzes funktionierendes System klerikaler Einträglichkeit der Gefahr des Entzugs ihrer christlichen Legitimation aussetzt. Dies scheint mir der große historische Rahmen zu sein, in dem sich die Tragödie einer klösterlichen Bibliothek bzw. die Aufklärung mysteriöser Morde innerhalb dieser abspielt. Der Erzähler Edson ist ein junger Begleiter des eigentlichen Aufklärers, Mönch William von Baskerville. Der Fülle der Fäden und Verweise würde dieser Text nie gerecht werden können, deshalb in aller Knappheit: Baskerville wird Zeuge einer wütenden Auseinandersetzung zwischen den Skriptoren und dem blinden Greis Jorge von Burgos. Dieser knorrige Kämpfer sieht die göttliche Ordnung in Gefahr, er erkennt die Macht, die von Bildern und Motiven ausgeht, wenn sie einmal Einzug in die zum Gehorsam erzogenen Geister der Gläubigen gefunden haben. Einer der Skriptoren ist Meister in der Ikonographie der Umkehrung und Verkehrung. Aus der Ästhetik des Absurden leitet der fanatische Jorge die Gefahr ab, das am Ende die Krone der Schöpfung auf den Kopf gestellt werden könnte … "und mit den Beinen nach oben[,] zum  Anlass groben Gelächters wird." Es ist ein "Karneval, und im Karneval ist die Welt verkehrt." Schlimmer als diese Darstellung empfindet Jorge die Gefährdung der Ordnung, die vom Lachen ausgeht, da sie den Menschen in die Position bringen könnte, einer tieferen Wahrheit als die des Gehorsams auf die Spur zu kommen.

Was kann ein fanatisches System mehr fürchten als die Gelassenheit der Provokation, die Leichtigkeit des Widerstands. Erzwungene Entsagung und Linientreue zum Machterhalt der Profiteure wird dann ausgehebelt, wenn jemand die Klugheit besitzt, das Gegenbild zu evozieren. Alle starren Systeme haben nichts so sehr gefürchtet und versucht niederzuringen wie die Opposition, die sich der Waffe des Augenzwinkerns bedienen konnte. Dass eine wachsame Opposition nötig sein könnte, könnte man auch aus den Worten eines Verses von Geoffrey Chaucer entnehmen, den ich hier als eine Art Originalton aus dem Mittelalter zitieren möchte: "Fy upon a lord that wol have no mercy" ("Schande über einen Herrn, der kein Erbarmen kennt"). Eine Seite später in der Ritter-Erzählung heißt es dann: "Doch alles will einmal ausprobiert sein, sei es heiß oder kalt. Ein Mann muss einmal ein Narr sein, ob in der Jugend oder im Alter":

 

A man moot ben a fool, or yong or oold …

 

Mir liegt es auf der Zunge zu ergänzen: "… ohne dass er Gefahr läuft, verbrannt zu werden, auch wenn er es wagt, einmal die Welt auf den Kopf zu stellen." Vielleicht wurde auch dieser Text Chaucers nur für mich geschrieben.

Fotos v.l.n.r.: Rudolf H. Boettcher: "Aristoteles-Albertus-Magnus-Handschrift" (Aristoteles - Albertus Magnus - manuscript), neuer Zuschnitt (CC BY-SA 4.0); Rob C. Croes / Anefo: "Umberto Eco" (Boekenconferentie in Amsterdam; schrijver Umberto Eco), neuer Zuschnitt (CC BY 4.0); Umberto Eco / Editore Bompiani: "Plan des Bibliothek-Labyrinths" (Labyrinthus Aedificium), weißer Hintergrund neu (CC BY-SA 4.0); Carlos Reusser Monsalvez: Cabeza de Medusa en Cisterna Basílica (auf Wikimedia Commons, public domain); Rosen (c) Stefan Scheffler:

Schnipsel 193: Max Brod Anekdote

(c) Stefan Scheffler mit freundlicher Genehmigung des Literaturarchivs Marbach (siehe 181), Brief von Franz Kafka an Max Brod.

Nachdem man das 20. Jahrhundert durch eine letzte Tür verlassen hat, findet man einen Übergang zum 21. Jahrhundert, das in einer Art Loggia beheimatet ist. Das Literaturmuseum in Marbach am Neckar zeigt das 21. Jahrhundert virtuell, der Zugang zu den Exponaten erfolgt digital über QR-Codes. Die Trennlinie aus der Vitrinenlandschaft des 20. Jahrhunderts bildet eine massige Betonwand, auf der sich auf unserer grauen Gegenwartsseite so leichte Worte finden, dass sich der kalte Schriftgrund selbst auf den Fotos zur Aussage des Gesagten befremdlich abweisend verhält. Es ist eines der wenigen Gedichte Franz Kafkas, dem ich zuvor noch nie über den Weg gelaufen bin: "Kleine Seele" (- die Dauerausstellung zur modernen Literatur trägt den Titel: "Die Seele" und man kann ergänzen ... "der Literatur"). Flüchtig wie der an anderer Stelle erwähnte Federstrich Kafkas "Wunsch, Indianer zu werden" ist sein Gedicht ...

Es ist dies hier nur ein kleiner Hinweis auf eine Anekdote Max Brods, dem großen Thema Max Brod bin ich immer ausgewichen und werde es wohl noch eine Weile tun. Es findet sich ein Interview aus den sechziger Jahren. Max Brod verzaubert mit einer Leichtigkeit und gleichzeitiger Präzision des Ausdrucks, die in einem ähnlichen Kontrast wie der oben erwähnte steht, betrachtet man die Anspannung des interviewenden Journalisten. Seine Position und vielleicht sein Widerwille der ausufernden Kafka-Interpretation sind ihm ins Gesicht geschrieben. Selbst den alten Freund Kafkas konfrontiert er mit einer - wie er es einleitend ausdrückt - "prekären Frage". Bedeute die Tatsache, Kafka gekannt zu haben, nicht eine Belastung für ihn den Literaturhistoriker, da für die Deutung Kafkas der Abstand fehle als Freund. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine mit augenzwinkernder Leichtigkeit klüger formulierte Antwort in einem Interview gehört zu haben: "Ich glaube nicht, dass es ein Vorteil ist, Kafka nicht gekannt zu haben." Ich kenne Georg Stadtler nicht und möchte mir nicht anmaßen, seine journalistische Befähigung zu kritisieren. Immerhin führt er das Gespräch ebenfalls - wenn auch angespannt - auf einem Niveau, in dem sich der Freund Max Brod entfalten kann. Mir geht es in diesem Text auch eigentlich um eine andere Stelle im Interview, die mir wohl unvergessen bleiben wird. Max Brod schildert, wie der Freund Franz Kafka mit ihm in seine, Max Brods, Prager Wohnung kommt und zunächst an seinem auf dem Kanapee schlafenden Vater vorbeihuschen muss. Der Vater schlägt die Augen auf und Kafka richtet mit erhobenen Armen an ihn die Worte: "Betrachten Sie mich als einen Traum." Literaturhistorisch kann man keine weniger aussagekräftige Anekdote zur Interpretation Kafkas beisteuern als diese als Freund. Das Interview findet man unter dem Link: https://www.youtube.com/watch?v=HLLoWh45jOA.

Literaturarchiv Marbach am Neckar, Franz Kafka: "Kleine Seele"

Fotos v.l.n.r.: Max Brod (auf Wikimedia Commons, public domain); Franz Kafka und der in Ausschwitz ermordete Bruder von Max, Otto Brod: Památník národního písemnictví v Praze: Franz Kafka a Otto Brod na Rivě v roce 1909 (CC BY-SA 4.0), Franz Kafka als Erwachsener und zweimal als Kind (alle auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 194: Überfülle des Erlebens II - Pandemie II

In der Nähe von Dannenrod und des Dannenröder Forsts, (c) Stefan Scheffler

Es ist die zweite Welle. Der Himmel ist nicht mehr frei wie im Frühjahr und Sommer. In der Region kämpfen Gegner eines Autobahnausbaus gegen den Frevel, einen gesunden Mischwald für einen Autobahnabschnitt abzuholzen. Anfang November wird es in Deutschland zu einer zweiten Zeit einschränkender Maßnahmen gegen die Ausbreitung neuer Ansteckungen kommen. In den USA brennen die Straßen und vor der Wahl in wenigen Tagen herrscht weltweit gebanntes Erwarten, ob der Spuk dort bald ein Ende hat. Dinge hängen nicht zusammen oder voneinander ab. Sie sind.

Mir fällt es schwer, meine kleinen literarischen Sprengsel jetzt im dritten Herbst wieder anzufangen für meine treuen vier Leserinnen und Leser und für mich. In einem früheren Text 178 "Pensieve" finde ich Zeilen zu Kurt Pinthus zur Überfülle des Erlebens. Längst hat sich meine Sammlung assoziativer Gedanken und Anekdoten verselbstständigt und ich denke beim Lesen oft darüber nach, ob mir eine Querverbindung zu meinen Lieblingsdetails einfällt oder sich ein sympathischer Nebenpfad öffnet, manchmal fühle ich mich dann nach vielen verschlungenen Büchern überlesen. Und dann steigt aus den Tiefen des Lese- oder Studiengedächtnisses doch eine weitere alte Anekdote oder Erinnerung empor, ein Federstrich oder gar eine Fährte oder Spur - wie eine im Minengestein freigelegte Silber- oder Opal-Ader.

Professor Glück, wieder einmal, seine Hinweise scheinen in mir abgelegt und ich brauche mein Pensieve hier, um sie sicher verwahrt zu wissen, damit sie in der Überfülle nicht verschütt gehen. Charlie Chaplin hat ihn mit einer Szene fasziniert, in der der kleine Tramp kurzerhand die überstehenden Kleidungsreste aus einem Koffer behände mit großer Schere abschneidet. So gingen laut Professor Glück die Interpreten von literarischen Texten vor, wenn sie Ideen oder Interpretationsgedanken loswerden müssten, die nicht in ihre gewählte Interpretationsmethode passten. Vielleicht war sein Anliegen auch ein anderes, ich kann es nicht mehr sicher sagen. Charlie Chaplin wurde zum Bildgeber vieler weiterer Erkenntnisse. Die Zwangshandlungen des in Akkordarbeit gefangenen Arbeiters aus "Modern Times". Man braucht den Filmtitel nur in die große Maschine tippen und auf dem Bildschirm erscheint noch immer nach wenigen ersten Buchstaben "Modern Ti..." das große Bild als Mahnung des zwischen die Zahnräder seines feindseligen Effizienz-Apparates geratenen Menschen. Charlie Chaplin wird in der McCarthy Ära während einer Promotiontour für seinen Film "Limelight" nach London die Wiedereinreise zurück in die USA verwehrt. Jahrzehnte zuvor boten die USA Zuflucht für deutsche Schriftsteller. Bertolt Brecht. Max Brod. Kurt Pinthus. Ernst Toller. Zufällige Namen aus einer langen Liste. Eine Frau: Vicki Baum.

Vicki Baum findet sich heute nicht mehr auf den Leselisten. Während der Pandemie 2020 findet ihr Roman "Vor Rehen wird gewarnt" durch eine Literaturtalkshow den Weg zu mir. Ich lese, wie sich Menschen in einer Naturkatastrophe verhalten und kann es kaum glauben, welche Parallelen sich auftun.

 

Aber vorläufig kehrte sie zu den Dingen des Alltags zurück, als wäre nichts geschehen. In jenen frühen Morgenstunden schien ganz San Franzisco der gleichen Regung zu folgen: man ignorierte das Erdbeben; nun, da es vorbei war, tat man so, als hätte sich nichts Außergewöhnliches ereignet, gleichsam in der logischen und bemitleidenswerten Hoffnung, daß weiteres Unglück verhindert werden könnte, wenn man bloß so tat, als wäre dies ein Tag wie jeder andere.

 

Dann zünden die Menschen in den Herden ihrer Trümmer Feuer an, für die es keine Schornsteine mehr gibt und die Stadt fängt an zu brennen. Vicki Baum schrieb mittlerweile in der Fremdsprache Englisch, hatte großen Erfolg im gewählten Exil, wie eine Generation vor ihr Joseph Conrad in Großbritannien.

Immer wieder verbinden sich nun die Namen, zu denen ich schrieb oder zu denen ich noch schreiben muss ...

In 184 "Non Liquet" zu Sigmund Freud stieß ich über den Fotographen Max Halberstadt (dem wir u.a. unser "klassisches" Freud-Bild verdanken) auf den Hinweis, dass dieser Fotograf mit Sophie Freud, Freuds Tochter verheiratet war. Wenige Zeilen später erfahre ich, dass Sophie Freud eines der prominentesten ersten Opfer der Pandemie von 1918-1920 war. Ich hatte von der Spanischen Grippe noch nie gehört. Dann sah ich die Bilder. Es sind Ketten, Adern, Netze, Anknüpfungspunkte, Anekdoten, Assoziationen. Es sind Nebenpfade, und ich möchte auf dieser Homepage noch ein paar beschreiten ...

Dinge sind, und sie hängen zusammen, oft auch voneinander ab.

Fotos obere Reihe: Außen (c) Stefan Scheffler, 2020; Mitte: Spanische Grippe Pandemie in den USA 1918 (auf Wikimedia Commons, public domain).

Fotos untere Reihe v.l.n.r.: Ein Foto von Georg Pahl: "Berlin, Charly [sic] Chaplin mit Schutzpolizisten" vor dem Reichstag in Berlin 1931 (Bundesarchiv, Bild 102-11347 / Georg Pahl: Berlin, Charly Chaplin mit Schutzpolizisten (CC BY-SA 3.0 DE); ein Foto von Max Fenichel: Vicki Baum ca. 1930 (auf Wikimedia Commons, public domain - Kunsthistorisches Museum Wien, Bilddatenbank); Unbekannter Fotograf: Die Freudfamilie 1898, vorne links Sophie Freud (ebenfalls auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 195: New York und Frankfurt, Pinthus, Ransmayr und Brecht

(c) Google - Google Street View: New York 124 East 57th Street und 401 West 118th Street.

Es ist eine kleine Geschichte, eine belanglose Zufälligkeit oder Überschneidung von Orten und Namen, die mir den Wiedereinstieg ins Schreiben liefern soll. Eine sperrige Zwischenstation sperriger Sätze. 

Vor einigen Monaten einer anderen Zeitrechnung stand ich verblüfft vor einem Brief Bertolt Brechts an Thomas Mann aus dem Jahr 1943, ausgestellt in einer Vitrine des Marbacher Literaturmuseum (siehe 181). Meine Verwunderung über die Kontaktaufnahme zum geschmähten Schriftsteller habe ich seither nicht vertieft bzw. ich habe mich um die Hintergründe nicht weiter informiert. Mein Blick galt dem Detail der Adresse. Brecht in New York. Man findet mit entsprechender Stichwortsuche Hinweise auf die Wohnung, ein Besucher spricht von einem am Telefon wütenden Brecht in großzügiger Loftwohnung. Dann wieder Hinweise, dass es sich um die Wohnung von Ruth Berlau handelte, die sie sich mit einer Ida Bachmann teilte. Heute kommt man über die Panoramasuche in die Straßenschlucht und findet ein winzig schmales Gebäude, ich weiß nicht, ob es die Wohnung von Brecht oder Berlau beherbergte. 124 East ...

Gerade als der Weg nach Frankfurt im Frühjahr 2020 bereits mit Fragezeichen versehen war, konnte ich nicht widerstehen, mich zu einer letzten Leseveranstaltung zu begeben, Christoph Ransmayr im Literaturhaus Frankfurt. Es war die beste Lesung der letzten Jahre. In diesem sperrigen Text ist aber auch dies nur eine Randnotiz, die Lesung und Macht der Formulierungen Ransmayrs werde ich nicht schildern, Christoph Ransmayr wird mich in den nächsten Texten beschäftigen, dies hier ist ein Übergang, ein Trittstein, denn neben mir in der Lesung saß Herr Schneider, der Bändiger von Tatters, der wieder mal mit Joseph Conrad demnächst Geburtstag haben wird, und ersteigerte einen Brief. Die Transaktion erforderte beherztes Agieren am Mobiltelefon der Etikette zum Trotz, hatte die Lesung doch bereits fast begonnen. Ich befinde mich mittlerweile aufgrund meines sich jeweils mit dem Untergang der Titanic überschneidenden Geburtstags im Besitz dieses Briefes, auch hierzu bzw. zu dessen Inhalt werde ich nichts weiter schreiben. Hängen blieb mein Blick wieder an einer New Yorker Adresse, sie gehörte Kurt Pinthus. Pinthus ist mit seiner Frau in Marbach begraben, wo er in den späten 1960er Jahren im Literaturarchiv arbeitete. Mäandern. Sperrig. Der Fülle geschuldet.

Der Brief von Bertolt Brecht erneut, mit freundlicher Genehmigung des Literaturarchivs Marbach, Poetik-Vorlesung Christoph Ransmayrs im Literaturhaus Frankfurt und ein Brief von Kurt Pinthus.

Schnipsel 196: Das Brecht-Weigel Museum in Berlin

In der Chausseestraße 125 teilten sich Bertolt Brecht und Helene Weigel einen Eingang in ein Haus mit zwei Wohnungen - für Brecht entscheidender: mit zwei Ausgängen, einem Fluchtweg. In der Bibliothek fallen mir die amerikanischen Krimis auf. An der Wand Konfuzius. Ein großer Wohnbereich für Arbeits-Besprechungen. Der Ort ist fesselnd, die Wohnung ist Brecht. Ein kleines Zimmer mit Bett und Nachttisch, sein Sterbezimmer. Einen Steinwurf entfernt der Friedhof. Helene Weigel, Bertolt Brecht, Ruth Berlau, Hanns Eisler, Johannes R. Becher, Heinrich Mann, ... ein Anfang von Namen. Ich hatte dem New Yorker Fotograf Beowulf Sheehan vor seiner Berlinreise mitgeteilt, dass es diesen Ort gibt. Selbst er durfte im Museum nicht fotografieren, glaube ich. Hier eine Möglichkeit, nach innen zu schauen: https://www.adk.de/de/archiv/museen/brecht-weigel-museum/index.htm

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 197: Paul Auster 4 3 2 1

Buchcover aus dem Rowohlt Verlag mit freundlicher 'fair use' Genehmigung, Bild rechts (c) Stefan Scheffler

In irgendeiner Mitte seines Romans "4 3 2 1" zitiert Paul Auster den US-amerikanischen Dichter Kenneth Rexroth mit dem Satz: "Gegen die Zerstörung der Welt gibt es nur eine Verteidigung: Den kreativen Akt." Im Original steht das Wort "ruin" für Zerstörung. Austers Roman habe ich für kaum lesbar gehalten, die ersten Seiten erschlagen einen mit einer Fülle an Namen und Familienkonstellationen, dann potenziert sich das Ganze im Verwirrspiel mehrerer Varianten. Die Fülle von über 1000 Seiten ist schon in den Händen eine Lese-Herausforderung. Den Einstieg lieferte mir das von Auster selbst gelesene Anfangskapitel auf seiner Verlagshomepage von Macmillan. Es ist der Sog, der geschmeidige Fluss der Worte, mit dem es Paul Auster gelingt, mich in seinen Roman zu ziehen. Ich kann mit wenigen, und wahrscheinlich auch mit vielen Worten nicht beschreiben, wie es gelingen kann, dass vier sich etappenweise unterbrechende Lebensentwürfe im Spiel der schicksalhaften Möglichkeiten hintereinander weglesen lassen, ohne dass sich eine Schwere bei der Lektüre einstellt. Vielleicht, weil ich im ersten Durchgang selbst entschieden habe, die Leben der einzelnen Fergusons im Block zu lesen, und dann - mit immer noch nicht gestillter Begeisterung - die Fahrt von neuem, diesmal von Anfang bis Ende aufzunehmen. Jeder der Lebensentwürfe trägt, berührt. Die Schilderung des historischen Rahmens, der Zeit der Aufstände in amerikanischen Städten, die Positionierung der Jugendlichen oder der Elterngeneration weckt Neugierde, sich einmal diesen Abschnitt der Geschichte der USA recherchierend neu zu vergegenwärtigen, um ihn dann mit den Geschehnissen unserer Gegenwart in Beziehung zu setzen. Die Fülle, die Auster liefert, ist nicht erdrückend, sie ist reich, reich wie die vielen Momente in der Entwicklung der vier und des doch einen Jugendlichen, die ihre Leben - die in den Varianten 4 3 2 1 durch Wimpernschläge einschneidende Veränderungen erfahren - doch auf ähnliche Lebensziele hin ausrichten, z.B. indem alle versuchen, ihrer Versuchung nachzuspüren, die das Schreiben auf sie ausübt, um schließlich eine professionelle schreibende Identität zu erlangen, immer mit einer Entscheidung verbunden, was sie mir ihrem Namen Archibald Ferguson anfangen sollen.

Heraklit. Fluss. Metamorphosen. Diese wenigen groben Worte, habe ich irgendwo auf eine freie Buchseite geschrieben. Beim zweiten Lesen schärften diese meinen Blick. Selbst der Hinweis in der englischen Ausgabe auf Kafkas "Die Verwandlung" gewann unter dem englischen Titel "Metamorphoses" eine andere Tragweite. In einer Kurzgeschichte hat Ferguson 4 das Prinzip des Romans bereits angedacht, Auster stellt es quasi rekursiv dort zur Schau, um es in einem großen Schlussmoment dichterischen Erwachens als Gedankenexperiment auszuformulieren. Es wäre nicht fair, diese Worte hier zu zitieren, nur ein Fragment: "Ein Weg ist nicht besser als der andere." In jedem Weg gelingt es Auster, die magischen Momente eines Lebens, einer Identität zu finden und zu beschreiben. Eine der für mich stärksten und bleibendsten ist die Beschreibung des Fotos, das Fergusons Mutter von ihrem Sohn macht. Ein zerbrechlicher Junge versunken im Leinwanderlebnis von Laurel und Hardy. Ich bin froh, dieses Buch nicht zu schnell beiseite gelegt zu haben, um dann belohnt zu werden mit der Erkenntnis, dass nie meiner Kenntnis nach würdigender und besser zur Kunst von Laurel und Hardy geschrieben wurde, wie es Auster über den Weg über Ferguson 4 tut. Dieser wurde von der Mutter im Moment seiner Prägung wahrgenommen, die er später in Aufsätzen zur Filmkunst zur Reife führt, es werden Aufsätze zu Laurel und Hardy, denen die Tiefe eines vom Schicksal geprägten Menschen innewohnt. Ein Weg ...

"Hätte jene Nacht anders begonnen und anders geendet, vielleicht hätte sie sich zu einem ganz anderen Menschen entwickelt ...", schreibt die oben in 194 erwähnte Vicki Baum. Das Thema ist universal, ewig in seiner steten Veränderung. Auster ist diesem großen Thema als Schriftsteller gewachsen. "What if ..."

Lektüren in Zeiten des Lockdowns. Verweise im November 2020.

Fergusons Mutter wird sich in einem Teil als politische Fotografin etablieren, die die 'Riots' von Newark 1968 dokumentiert. Auf Wikimedia Commons findet man Bilder der Aufstände von Washington desselben Jahres der Fotografen Warren K. Leffler (Bilder 1-3) und Marion S. Trikosko (Bild 4 "Smoke rises near U.S. Capitol"). Sie sind gemeinfrei / public domain aus der Sammlung der "Library of Congress".

Schnipsel 198: Aldous Huxleys Vorwort

Kleine Texte scheinen mir großen selten gerecht zu werden. Die Ästhetik des Makels oder ein selbstbewusstes Eingeständnis, Schmied des Unvollständigen, des Fragments zu sein, eröffnet Wege, die eigene Kreativkraft in den Grenzen ihrer gewählten oder auferlegten Möglichkeiten zu begreifen. Aldous Huxleys Roman "Brave New World" schätze ich sehr, mich seiner Hand durch den Erwerb einer signierten Ausgabe nahe zu wissen, reizte mich bereits seit längerem. Ein Antiquariat in Sidmouth, Devon, offerierte mit viel Liebe zum Detail einen Band von Aufsätzen, selbst ein Zitat aus dem Vorwort von Huxley fand in der Beschreibung des Buches Erwähnung:


It would have been better, I repeat, to write it all oneself - a new Divine Comedy; and, if I had the abilities of Dante, I should certainly undertake the task. But in company with all but about half a dozen of the men and women who have lived in the last thousand years, I lack these abilities. So I must content myself with picking up these broken and half-forgotten fragments from the past and fitting them, one here, another there, into their appropriate places in the jumbled mosaic of contemporary experience.


Als dann der Schriftzug des Vornamens noch das Versehen des Verwischens aufwies, war mein Wunsch, dieses Buch zu besitzen, besiegelt. Es kam mit einem netten Gruß aus Sidmouth des Antiquars Ken Derrick, vielen Dank. 

Das Vorwort, das sicherlich viele Aussagen beinhaltet, die aus heutiger Sicht zur Kontroverse herausfordern, beginnt Aldous Huxley mit dem Infragestellen des Unterfangens der Herausgabe einer Anthologie (es geht um eine Sammlung von Auszügen aus literarischen oder philosophischen Texten, insbesondere Gedichten zum Teil nur mit wenigen eigenen begleitenden Gedanken Huxleys unter zum Teil sehr vagen thematischen Überschriften; die Auswahl und den Anspruch auf gesammelte Wiedergabe leitet Huxley aus ihrer künstlerischen Qualität ab) in der Mitte der Rezession (1933). Er höre, so Huxley, schon die Proteste, "Fiedeln, während Rom brenne." Dort zündelt seit einigen Jahren bereits Mussolini. Dann die Macht, die Aldous Huxley dem Kunstwerk zubilligt: "Vielleicht würde Rom nicht brennen, wenn die Römer intelligenter auf ihre Fiedler geachtet hätten. Ich sehe die Verbindung zu Kenneth Rexroth, der ruinösen Zeit den kreativen Akt entgegenzustellen. (Vgl. 198) Ich weiß nicht, wann oder ob überhaupt ich dazu kommen werde, mich der Fülle des Buches "Texts and Pretexts" - in etwa "Texte und Ausflüchte" - widmen zu können. Ich habe aber schon mal grob reingelinst. Es findet sich auch das mittlerweile zum Kühlschrankmagnet avancierte Zitat Sören Kierkegaards, wonach das Leben nur rückwärts verstanden werden könne, allerdings vorwärts gelebt werden müsse. Die Erdung der Ästhetik erfolgt auf S. 292 mit dem Zitat von Karl Marx: "There can be no higher living that is not based solidly upon an income." (Gregors Seele hätte sich auch nur auf Höhenflüge begeben können, da ein Kloster seine körperliche Hülle mit Nahrung versorgte.) Da fällt mir aber gleich noch einmal Schiller ein: "Die Würde des Menschen - Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.

Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst." Oder auch in der Version von Brecht: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral."

Aldous Huxley hat mit "Brave New World" Strukturen einer möglichen Effizienz-Welt unter zentralistischer Herrschaft mit den Möglichkeiten eines durch gezielte genetische Manipulation aufrechterhaltenen Ausbeutungssystem zur Dystopie gesteigert, die nachvollziehbarer kaum erdacht werden konnte. Damit ist er unsterblich, damit zählt er zu den Großen, denen mein kleiner Text wohl erneut nicht ganz gerecht werden wird.

Über den Umweg der Krimiautorin Martha Grimes gelangte ich zu einem in "Texts and Pretexts" häufig zitierten Dichter Alfred Tennyson. In seinem Gedicht "Ulysses" stehen die Zeilen: "Come, my friends, /

'T is not too late to seek a newer world." Huxley wies auf das brennende Rom seiner Gegenwart. Das brennende Europa mag zu dieser Zeit noch jede Vorstellungskraft überstiegen haben. Auster berichtete vom brennenden Newark 1968, die Fotos oben zeigen Rauch über dem Capitol 1968. Zu meiner Gegenwart brannten die Städte Ferguson 2014 (ein Grund für Paul Auster, seinem Roman einen anderen Titel zu geben, er wollte ihn zunächst nach dem Protagonisten nennen), Minneapolis, Atlanta, Dallas und viele weitere 2020 ...

hoffentlich gelingt es, der Gefahr des Zerfalls Schaffenskraft entgegenzustellen und mehr.

 

Geschrieben am 2. November 2020.

 

P.S.: Fehlt nur noch der Hinweis, dass in dem wunderschönen Band aus Sidmouth ein Segelschiff auf vielen Seiten als Wasserzeichen auftaucht. Dazu bald mehr.

Schnipsel 199: Creare Orbem Terrarum, Creare Mundum

Fotos: Siehe Ende des Artikels unten.

Christoph Ransmayr ist ein Weltenbummler. Sein "Atlas eines ängstlichen Mannes", einem Erzählband mit 70 Reiseschilderungen - jede in sich geschlossen und doch verwoben mit den anderen, jede beginnend mit den Worten "Ich sah..." - endet mit dem Bild eines kleinen Funkenflugs eines Aschestückchens hinauf zur Höhlendecke, verweisend auf das große Weltdach der Gestirne über dem Himalaya. Der Rastlose ist zur Ruhe gekommen, bei sich angekommen. Er ist auch, wie er während der bereits erwähnten Lesung in Frankfurt berichtet, ein Sternengucker, der zu sich findet, wenn sein Blick in die unermessliche Weite des Alls gerichtet wird, um Jahrmillionen altes Licht über die Okulare seiner Teleskope wahrzunehmen. Das englische Wort "self-possessed" ist schwer zu übersetzen. Es zeichnet einen Menschen der Selbstbeherrschung aus, wobei auch hier die Konnotation des Wortteils "-beherrscht" nicht zufriedenstellend ist. Jemand ruht in sich, weil er sich selbst besitzt, auch mit allen Unsicherheiten und Ängstlichkeiten. Diese Ausstrahlung hat Christoph Ransmayer, sie fließt in seine vorgetragene Prosa ein und ein Funke springt über, er ist in der Lage eine erzählte Welt zu schaffen, die tragfähig ist.

Um den antiken Star-Poeten Ovid Naso ranken viele Geheimnisse, das größte nimmt Ransmayr zum Anlass für seinen großen Roman "Die letzte Welt", die Verbannung des römischen Schriftstellers durch Kaiser Augustus nach Tomi. Er deutet nur an, dass sich hinter der Wut des Kaisers eine amouröse Verfehlung des in Liebesdingen versierten Naso (dem Verfasser der "Amores" und "Ars Amatoria") verbergen könnte. Die Notwendigkeit, Ovid ans Ende der Welt zu verbannen, muss aber in der großen Gefahr begründet liegen, die das Werk Ovids für die Stabilität des Reiches besitzt. Es ist nicht das gefällige Prinzip der sich ewig in Bewegung befindlichen Schöpfung postuliert in Heraklits "panta rhei", es ist die Erkenntnis, dass kein noch so großer Despot und Starrkopf auf die Beständigkeit seiner Macht bauen kann, da vor der Wandelbarkeit der Zeiten ob in Sekunden oder Äonen selbst der Unnahbarste in seiner Abschottung nicht gefeit ist. Ich bin erst bei der Hälfte Ovids "Metamorphosen" angelangt, die zu lesen mir Ransmayrs Roman abverlangt, doch bereits nach dieser Hälfte schwindelt einen ob der Fülle der Bewegungsenergie, die im steten Transfer der Aggregatzustände alles Lebendigen und Unbelebten und Erhaben-Göttlichen von diesem Werk ausstrahlt. Viele der Namen und Geschichten gehören zum kollektiven Gedächtnis unserer Kultur und sei es nur über den Umweg des Fremdworts oder Fachbegriffs: Echo, Narzissmus, der Ariadnefaden, das Argusauge, die Achillesferse, Hermaphrodismus, Famine für Hungersnot, das Wesen der Furien und des Furiosen, die Anmut der Musen. Die Macht, Lebendiges zu Stein erstarren zu lassen, die dem von Perseus abgehauenen Medusenhaupt innewohnt, die Liebesgeschichte von Pryamus und Thisbe ... wir kennen einen Teil als Romeo und Julia ... es ist schlichtweg atemberaubend. (Ich liege noch auf der Lauer nach der Binsenweisheit, aber dazu später ...)

Ovid wird wohl zu dem halben Dutzend gehören, die Aldous Huxley oben meint, und er ist sich seiner Größe wohl bewusst. Das Weltbild gefestigt im Blick - es ist die Kugel (auch wenn einige Seiten später wieder vom Weltkreis die Rede ist - es scheint eventuell noch nicht so gefestigt im Gebrauch oder wandelbar zwischen der zweiten und dritten geometrischen Dimension, wer weiß) - tritt Ovid vor seine Leser.  Er wolle in neue Gestalten verwandelte Wesen besingen und bittet die Götter um Unterstützung, die ja eh von Urzeiten an den Wandel zu ihrem Schaffensprinzip auserkoren hatten, sinngemäß. Frech wie Oskar schwingt er nach Hunderten von Seiten geschäftigen Wechselreigens die Feder zu der selbstbewussten Erkenntnis, dass jetzt - schwuppdiwupp, ich bin ja schon fertig - der bessere Teil von ihm, nicht seine zum Untergang verdammte körperliche Hülle, sondern seine dichterische Leistung und aufs Papier gebrachte Phantasie, überleben wird, Bestand haben wird, unauslöschlich werden wird, unsterblich zu den hohen Gestirnen aufsteigen wird wie die großen Namen unserer Himmelskörper einst ... Über Ransmayr ist er bei mir angekommen, wahrscheinlich hat er Recht. Auch Paul Fleming wusste seinen Wert als Dichter einzuschätzen, er ist über den Weg von Alfons Glück zu mir gekommen, um an seiner Unsterblichkeit zu arbeiten:

 

Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrift, so er ihm selbst gemacht in Hamburg, den 28. Tag des Merzen 1640. auf seinem Todbette, drei Tage vor seinem seligen Absterben

 

Ich war an Kunst und Gut und Stande groß und reich,

des Glückes lieber Sohn, von Eltern guter Ehren,

frei, meine, kunte mich aus meinen Mitteln nähren,

mein Schall floh über weit, kein Landsman sang mir gleich,

von Reisen hochgepreist, für keiner Mühe bleich,

jung, wachsam, unbesorgt. Man wird mich nennen hören,

bis daß die letzte Glut diß Alles wird verstören.

Diß, deutsche Klarien, diß Ganze dank' ich euch.

 

Von Glück kenne ich eine Lackmus-Frage der Literaturkritik: "Wer ärgert sich, wenn er den vorliegenden Text vor Augen hat?" Bei Ransmayr wird die Wut über die "Metamorphosen" hinter den dicken Mauern des Kaiserspalastes vermutet, vielleicht nimmt sie ihren Anfang beim Kaiser selbst, vielleicht wird sie auch nur in einem seltsamen Gehorsam von den Würdenträgern der Administration ins Leben gesetzt, aus einem seltsamen Loyalitätsgeflecht heraus ersonnen, um ihren verschlungenen Lauf zu nehmen bis hin zu einem nebligen Urteil ... bis heute ein Rätsel. Aber wenn man Ovids "Metamorphosen" unter dieser Fragestellung liest, sieht man die zornigen Augen eines Kaisers, der sich des eigenen Ewigkeitsanspruchs nicht mehr sicher sein kann, wenn auf den Seiten vor ihm die selbstgefälligsten Akteure Opfer einer Rache werden, die noch mächtiger ist als jede irdische Macht. Selbst die stolze Niobe irrt sich, wenn sie irrtümlicherweise glaubt: "Ich bin zu groß, als dass das Schicksal mir etwas anhaben könnte" (in der Übersetzung von Gerhard Fink). Auch der Frevel des Fällens einer Eiche bleibt nicht ungesühnt: Erysichthons zum Entsetzen aller geschwungene Axtschläge werden mit der Strafe unstillbarer Fressgier gesühnt, vielleicht eine Frühe Ahnung oder wenigstens übertragbare Bildgebung dafür, wie teuer einem eine unersättliche Gier nach Mehr und Wachstum zu stehen kommt.

Der Macht der Motivik kann sich Ovid bewusst sein, aber zu Ruhm gelangt er bei mir durch die Güte der Ausgestaltung, die wiederum in der Übersetzung von Gerhard Fink auf mich überspringt:

 

Als [der Mond] im vollsten Lichte schien und makellos rund auf die Erde herabsah, ging Medea aus dem Palast, in wallende Kleider gehüllt und mit bloßen Füßen; auf ihre entblößten Schultern fällt das lange Haar. Unstet und ohne Begleitung wandelt sie durch mitternächtliches Schweigen. Menschen, Vögel und Wild lagen tief im Schlaf versunken, es raschelte keine Hecke, von keinem Luftzug bewegt, schweigt das Laub, es schweigt der feuchte Nachtwind. Nur die Sterne schimmern, zu ihnen wendet sie sich dreimal mit ausgestreckten Armen, dreimal besprengt sie mit Wasser vom Fluss ihr Haar, öffnet zu dreifachem Heulen den Mund, kniet dann auf den harten Boden nieder und spricht: "Nacht, du treueste Bewahrerin des Geheimnisses, und ihr, die ihr samt dem goldenen Mond nun statt des Tagesgestirns erstrahlt, ihr Sterne ..." 

 

Und der Gefährte Cotta auf den Spuren Ovids in der unwirtlichen Randregion der Verbannung bei Christoph Ransmayr: 

 

In eine Decke gehüllt lag er auf dem sandigen Boden, im schwarzen Maul eines Stollens, der schon nach wenigen Metern von einer Barriere aus Felsbrocken und gesplitterter Pölzung versperrt war, lag unbehelligt in der Nacht, tief unter sich die Ebene des Meeres, die unsichtbare Küste, und hatte das Gefühl, mit seinen Schultern, seinem Rücken, seinem ganzen Körper am Gewölbe eines ungeheuren Raumes zu haften, und blickte so nicht mehr zu den Sternen empor, sondern hinab in eine grundlose, von Milliarden Funken durchschwebte Tiefe.

 

Jean-Pierre Letourneur würde sagen: "Sans mots." Mit dem Wort "meine" aus Paul Flemings Gedicht "Grabschrift" könne man tatsächlich gut "self-possessed" übersetzen.

Fotos: Reihe oben v.l.n.r.: Ein Manuskriptblatt Christoph Ransmayrs Roman "Die letzte Welt" im Literaturmuseum Marbach, (c) Stefan Scheffler mit freundlicher Genehmigung des Literaturmuseums Marbach; Naso Ovidius nach einem Kupferstich von Étienne Jehandier Desrochers; Doppelte Halbkugeln von Petrus Plancius aus dem Jahr 1594 (beide Wikimedia Commons, public domain); Christoph Ransmayr bei seiner Poetik-Vorlesung im Literaturhaus Frankfurt; Literaturhaus Frankfurt, (c) Andreas Schneider.

Reihe unten v.l.n.r.: Jupiter, NASA (auf Wikimedia Commons, public domain); Perseus mit abgetrenntem Kopf der Medusa fotografiert von Hermann Junghans (Amisos Medusa 3609), neuer Hintergrund (CC BY-SA 3.0 DE);  Athene mit Eule veröffentlicht von Classical Numismatic Group (http://www.cngcoins.com, SNGCop 039), neuer Hintergrund (CC BY-SA 3.0); Saturn, NASA; Theseus, Athena und Aphrodite einer Louvre-Töpferei; und schließlich Merkur, NASA (alle Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 200: A Soup for the Gentlemen

Es sei getrocknete und gefaltete Bullenscheiße, entgegnete unser Lehrer Manfred dem dann um dürre Worte ringenden Kollegen, der ihn in höflicher akademischer Zivilisiertheit und studien- oder oberstudienrätlicher Etikette im Lehrerzimmer unseres Gymnasiums, der ersten schulischen Adresse des universitären Städtchens, mit der harmlosen Frage in einen Diskurs eingeladen hatte, was für ein Kraut er denn in seine doch arg intensiv riechende Feinstaubpartikel ausstoßende Pfeife stopfe, oder so ähnlich. Und wir, seine Schüler, bekamen diese Anekdote unter Lachtränen immer und immer wieder erzählt. Viel wäre über ihn zu schreiben, aber nicht an diesem Ort. Nur so viel, von ihm hat man lernen können, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, Autoritäten, Systemen, Regelwerken oder Hierarchien zu begegnen - seine war zielsicher angstfrei. Mir hat das damals sehr gut getan, ich konnte meine Ängste vor dem Gymnasium abbauen. Energien lenkte er in die Dinge, die ihm wichtig waren, die Texte - vielleicht hätten es mehr sein können - die er verstanden haben wollte. Landschaften, die er gezeigt haben wollte. Begegnungen zwischen Kulturen und Menschen, die seinen Wesenskern ausmachten. Northumberland, Schottland, Schweden, Tschechien. Schreiben kann ich zu Northumberland und Schottland, da führte er uns und viele andere Leistungskurse hin mit Bussen, noch mehr mit Geschichten von Erlebnissen und Wahrnehmungen ... Anekdoten: Mit seinem Freund war er in ein Unwetter geraten während einer Wanderung durch die Highlands, ein Licht in einem Haus versprach Unterschlupf für die beiden, die Behausung sei - so erinnere ich mich an seine Schilderung - so ärmlich gewesen, dass man sich kaum hätte trauen dürfen, nach Hilfe oder einer Mahlzeit zu fragen. Unter strengem Blick habe sich der Besitzer der Behausung in Richtung des Wohnraums gedreht und gerufen: "Wife. A soup for the gentlemen." Es sei eine sehr dünne Suppe gewesen, aber die beste und würdigste, die er gegessen habe, glaube ich oder will es so glauben. Auch diese Geschichte mag ein Teil des Bildes von der Welt sein, das uns Manfred mitteilen wollte, alternativ zu den dürren Zahlen und blassen Rastern so vieler anderer Fächer und Stunden, deren Erinnerung nicht nur vergilbt, sondern nie wirklich dagewesen erscheint gegen die Fülle der satten Farben von gehaltvollen Geschichten dünner Suppen, für die ich schon immer anfällig war.

Eine lange Erinnerung, eine lange Vorrede für meine kleine Beobachtung, dass Ransmayrs Erzähler tatsächlich Recht haben könnte, dass sich ein Mächtiger der Welt tatsächlich sehr ärgern könnte, wenn er die Verwandlungen Ovids liest ... z.B. die Geschichte vom Besuch des inkognito reisenden Vater-Sohn-Gespanns Jupiter und Merkur. Sie stehen vor Tausenden von versperrten Türen einer ziemlich wohlhabenden Küstengegend. Nur in der kleinen ärmlichen Hütte des alten in Liebe gealterten Paares Philemon und Baukis finden sie Unterschlupf. Die Selbstverständlichkeit zu helfen scheint dort größer, wo man nicht lange darüber nachdenken muss, dass teure Bodenbeläge Schaden nehmen, wenn man sich nicht die (flügellosen) Füße abputzt. Der Tisch, der gedeckt wird, muss provisorisch mit einer Scherbe - "sie gleicht den Mangel [des fehlenden Zentimeters an Tischbeinlänge] aus" - gehindert werden zu wackeln oder umzukippen. Wie schön ist dieses Detail, schöner noch dann das Mahl, das ohne Rücksicht auf eine eigene Einschränkung aus nächstenliebender Gastfreundschaft kredenzt wird: "herbstliche Kornelkirschen, in reiner Weinhefe eingemacht, Endiviensalat und Rettich und Dickmilch und Eier, die behutsam in der nicht zu heißen Asche gewendet wurden." (So in der Übersetzung von Gerhard Fink, die Passage im Original lesen zu können, würde sich Latein zu lernen lohnen.) Man ahnt, dass die Belohnung für dieses Mahl von den Göttern im Überfluss spendiert wird, die sich abschottenden Reichen aber den Akt ihrer kurzsichtigen Besitzstandswahrung teuer mit einer Umkehr der herrschenden materiellen Verhältnisse bezahlen müssen. Dafür sorgen die Götter, die damals wohl noch so mächtig waren, dies zu können. Pessimisten könnten zweifeln, ob ihre Macht gegen die Bollwerke moderner Eliten etwas auszurichten vermögen. Den liebenden Alten wird der Wunsch gewährt, nicht lange trauern zu müssen. Sie sterben nach langen erfüllten Jahren kurz hintereinander, werden zu Bäumen verwandelt.

Geschichten von dünnen Suppen und Rettich und Dickmilch auf wackligen Tischen sind so reich an Fabulierfreude, dass sie vielleicht ohne politische Deutungsversuche sehr sehr überlebensfähig sind.

 

Die Gedichte von Manfred Blassl sind in zwei Bänden herausgegeben: "Fractures of Fragments". Das Gedicht zu unserem Leistungskurs findet sich in Band eins: "To my beloved Horrors".