Schnipsel 161: Goddelau, Büchner(s) (re)visited ...

Erst viele Tage nach meinem Besuch im Geburtshaus von Georg Büchner in Goddelau ist mir bewusst geworden, wie wichtig tatsächlich der Tisch mit den Mappen ist. Hier empfängt der Leiter des Büchnerhauses Peter Brunner freundlich die Gäste, die den Weg ins Hessische Ried genommen haben, um Tuchfühlung mit dem großen deutschen Revolutionär und Dichter aufzunehmen. Peter Brunner nimmt sich Zeit und schöpft aus seinem riesigen historischen und biographischen Wissen zu Büchner. Seine detailreichen Schilderungen schlagen die Zuhörer in einen besonderen Bann. Seine Wertschätzung gilt aber nicht nur dem großen Ausnahmetalent, dessen Geburtsstube sich oben im ersten Stock des Hauses befindet, sondern nimmt die Familienkonstellation in den Blick. Ich werde an dieser Stelle weder den einzelnen Geschwistern oder Eltern Büchners noch Georg Büchners unglaublicher Schaffenskraft als Forscher, Philosoph oder Revolutionär gerecht werden können in diesem Format der kleinen Nebenpfade. Wie lautet also das Thema dieses Nebenpfades, einer möglichen kleinen Erkenntnis? Mein Wunsch, mir ein Bild von Büchner zu machen, ist so alt wie die erste ungeliebte Beschäftigung mit ihm in der zehnten oder elften Klasse. Selten hat sich aber mein Bild eines Dichters so gewandelt, die Erkenntnis dieser Stärke, Ausdauer und gesunden Gesichtsfarbe ... und da bin ich laut der Einleitung in den Aufsatz "Revolutionär mit Feder und Skalpell" von Hildegard Wenner in meiner Zunft nicht ganz allein: "Germanisten gilt er als Liebling". Ernüchtert stelle ich fest, dass auch ich wohl eher einem Deutschlehrer-Hype hinterhersuche, die überschaubaren Dramen, Briefe und die Erzählung kenne, die Biographie mittlerweile in ihrem nicht in Zweifel zu ziehenden Revolutionspotential begriffen habe ("Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.") … und damit nur einen kleinen Teil tatsächlich überblicke, der allerdings ausreicht, um mir ein Abbild machen zu wollen.

Ein Abbild liefert Hildegard Wenner durch die Wiedergabe der Beschreibung des Kommilitonen Carl Vogt - die Stelle mit dem Zylinderhut lasse ich weg: "Er [...] machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn's donnert, hielt sich gänzlich abseits ... Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt ... Sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab." (https://www.deutschlandfunkkultur.de/revolutionaer-mit-feder-und-skalpell.932.de.html?dram:article_id=265908

Ich möchte mein Bild erweitern, erinnere mich an den Hinweis von Peter Brunner, den Stellenwert Büchners naturwissenschaftlichen Arbeitens und seiner Doktorarbeit zum Nervensystem der Barben gebührend in den Blick zu nehmen und zu begreifen, einer Forschung am naturwissenschaftlichen Spitzenthema seiner Zeit, der Evolution. "Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug." Die Klarheit im Denken, die konsequente Ausrichtung des Weges, sich auf dem Standpunkt zu positionieren, der  Sprengkraft besitzt, fällt mir sofort ins Auge, die Details zu den Nervenbahnen vernachlässige ich, auch für die Seiten um Seiten philosophischer Abhandlungen (im Projekt Gutenberg nachschlagbar) habe ich zunächst nur sprachloses Staunen. Wo nahm er die Zeit her? Er starb mit 23 Jahren.

Peter Brunner wies in unserem Besuch auf die Radikalität Büchners hin, seine Wortwahl ("Reiche") legt die Richtung des Kampfes fest, es geht um die Ungerechtigkeit zwischen arm und reich, das schließt den Kampf gegen die Privilegien der zwar nicht adligen, aber dennoch materiell sichergestellten Bürger mit ein. Das Wort wird im Druck durch das Wort "Vornehme" ersetzt, laut Brunner schien die Konsequenz des Kampfeswillens einige bürgerliche Mitstreiter aus gesicherten materiellen Verhältnissen zusammenzucken oder einknicken zu lassen. Unbequeme Haltungen haben auch heute noch die Wirkung, Menschen in Hinblick auf ihre persönlichen Konsequenzen zögerlich werden zu lassen, wenn sie doch zu den Satten zählen.

Ich wäre tatsächlich diesem Büchner gerne begegnet, selbst wenn man auch heute noch Büchners begegnen kann und diese Begegnungen bestimmt für die Satten unbequeme Erkenntnisse beinhalten würden. Fast wäre ich der Begeisterung aufgesessen, die ein Bild auslöste, das 2013 auf einem Gießener Dachboden gefunden wurde und das ein Portrait Büchners des Theatermalers August Hoffmann sein soll. Das seltsame Notenblatt in der Hand des Dargestellten reichte, dass sich "mein" Büchnerbild in der Ausarbeitung nicht wiederfand. Dazu gibt es im Blog von Peter Brunner einen beeindruckenden Aufsatz von Jan-Christoph Hauschild (https://geschwisterbuechner.de/?s=dachboden) Die Antwort, wie Büchner wohl aussah, liefert der Tisch, an dem wir die Familie in Goddelau versammelt sehen. Die Antwort ist - um Roald Dahls Erzählung "Lamp to the Slaughter" zu bemühen - direkt unter unserer Nase ... es könnte die Ähnlichkeit zum Beispiel zu den Brüdern sein, die auf den Ältesten verweist, auch mit der Frage Peter Brunners im Hinterkopf: Wer wäre Georg Büchner geworden, wäre er nicht mit 23 gestorben:  https://geschwisterbuechner.de/alexander-buchner/ oder https://geschwisterbuechner.de/wilhelm-buchner/ oder http://geschwisterbuechner.de/ludwig-buchner/ … vielleicht wichtiger ist die Würdigung dieser Familienmitglieder, dieser Familie an sich, z.B. der Schwester Luise: http://geschwisterbuechner.de/luise-buchner/

Das Geburtszimmer Georg Büchners ist im ersten Stockwerk, hinter dem Fenster links. Vielen Dank für die freundliche Genehmigung die Aufnahmen, die im Museum entstanden sind, an dieser Stelle zu veröffentlichen.

Nach den revolutionären Umtrieben führte sein Weg zunächst zurück zur Familie ... die Leiter stand bereit, eine Flucht über die Mauern der Nachbarsgärten zu ermöglichen ... das Lesen der Inschrift der Installation lohnt wie so vieles in diesem engagiert gestalteten Haus.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 162: Rügers Laden

Vielen Dank Wolfgang Rüger, diese Fotos des Antiquariates in Frankfurt - über den Fluss jenseits der mächtigen Türme - veröffentlichen zu dürfen. Die Lektüre der erworbenen Bände hier und darüber hinaus erfordert etwas Zeit ...

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 163: Signaturen - Zeichen setzen

Bücher, denen ihr Autor seine Unterschrift verpasst hat, steigen im Wert. Die Stelle, an der eine Autorin einen Stift über das Druckwerk geführt hat, stellt eine lebendige, ich meine fast spürbare Verbindung her - manchmal über Jahrhunderte hinweg. Es geht dem echten Sammler von signierten Büchern wohl eher um seine eigene Wertschätzung gegenüber den Personen, die seine Lesebegeisterung entfacht haben, und es geht um den Moment der Nähe, die der Schriftzug, das Kürzel, der gehetzte Schwung oder die verspielten Schnörkel mit Zeichnungen auslösen. Vielleicht ein unsinniger Kult, vielleicht einfach ein Genuss, den die Gewissheit auslöst, dass dieses Buch bereits in den Händen seines Verfassers lag und autografiert veredelt wurde. Im Herbst 2019 wurde ich Besitzer zweier Signaturen, die mir sehr wichtig sind.

Am 3. November erhielten 20 Jugendliche auf der Bühne der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst die Ehrung ihrer Gewinner-Texte beim Schreibwettbewerb Ohnepunktundkomma des Hessischen Literaturforums. Dessen Geschäftsführer Björn Jager fand in seiner Turboboost-Rede den richtigen Ton und die richtigen Worte, die allen Versammelten an diesem Sonntagmorgen klarmachten, wie grandios die Leistung der zwölf- bis fünfzehnjährigen blitzgescheiten Autorinnen und Autoren ist. Mir ist nie so bewusst gewesen, wieviel Achtung man zollen muss, wenn sich junge Menschen auf die Suche begeben, ihre Phantasie in Sprache zu bannen, sich mit dieser Phantasie in Bereiche vorzuwagen, die die Gabe erfordert, sich in andere Menschen, in schwierige Situationen, oder in absurd-komische oder tragische Konstellationen einfühlend hineinzuversetzen. Alle Texte wurden für jeweils 90 Sekunden angelesen und dann abrupt mit großem Gong von Löffel auf Tisch für den Moment beendet. Die literarische Kurzform in höchster Genussform … und zum späteren Nachlesen gab es alle Siegertexte als Anthologie herausgegeben in einer Papiertüte, an der gleich die Postkarte für den nächsten Wettbewerb hing: "Kämpf um jedes Wort".

Calogero Hourschs Kurzgeschichte "Opa?" beginnt mit: "Drei Balken. Zwei Balken. Ein Balken. Kein Netz.", während sich ihr junger Ich-Erzähler der Rentner-WG seines Großvaters nähert. Wenn ein Rentner mit "Damals ..." anfange, schalte sein Gehirn schon auf Stand-by ... der Erzähler wird auf drei Seiten eine Nähe zum Thema Altern und Sterben aufnehmen, die keinen balkenbreit Distanz hat. Johanna Amberg bearbeitet auf drei Seiten die Tragödie des erfundenen Ichs einer Protagonistin, die ihre Beziehung zu ihrer Verfasserin in die Sätze zähmt: "Johanna ist wie mein Gott aus einer anderen Welt. Eine Herrscherin über mein Leben und letztendlich mein persönliches Schicksal". Die Kreativität dieser narrativen Konstellation verbindet sie mit dem nächsten Autor, für den eine eigene Reise nötig wurde, in eine andere Stadt, zu einer anderen Signatur. In Frankfurt erhielt ich die Signatur der Verfasserin der angefangenen Geschichte Isola Segreta, sie bleibt an dieser Stelle geheim, man kann sie aber in der Anthologie finden.

Nicht geheim, sondern öffentlich setzte Björn Jager ein Zeichen, indem er seine Jury-Entscheidung darlegte, eine Häme-Botschaft nicht in die Auswahl der Texte zuzulassen. 

Ohnepunktundkomma, am Rednerpult Björn Jager vor den Preisträgerinnen und Preisträgern 2019 Calogero Hoursch, Paula Fischer, Timo Pfeiffer, Sven Görisch, Sophia Reinheimer, Ben Hagner, Marlon Pardik, Madita Lepper, Nele Stehling, Luisa Scheffler, Johanna Amberg, Theresa Stappel, Clara Petrasch, Nele Felten, Fenja Böhm, Lina Etteldorf, Nike Sasse, Hela Sasse, Malak Aderounmu, Clara Droste, Fenja Goetz und Lisa-Marie Preuss sowie Schülerinnen und Schülern der 9b der Justin-Wagner-Schule Roßdorf.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 164: Salman Rushdies Realität

Vorbemerkung 1: Der telefonisch angekündigte Versuch, für Frau I.L. (netteste Physiklehrerin) in meinem 49. Jahr die Naturgesetzte auszuhebeln, wird auch mit der Hilfe des neuen Romans "Quichotte" von Salman Rushdie nicht gelingen.

 

Vorbemerkung 2: Salman Rushdie war am 13. November 2019 an zwei Orten gleichzeitig, aber nur bei Heymann in Hamburg wirklich und in Farbe, echt und greifbar auf der Bühne des Altonaer Theaters. In der Talkshow bei Lanz war er zeitgleich nur in Farbe, nur vergangen echt in nur wenig-stündlichem Zeitversatz und nicht mehr greifbar. Ich saß im oberen Rang und hatte analogen Blickkontakt. Neben mir saß Herr Schneider, ebenfalls ziemlich analog, in Altona.

 

Vorbemerkung 3: Im Schnipsel 135 wird ein leider nicht von mir gemachtes Foto gezeigt, auf dem Salman Rushdie neben Paul Auster abgebildet ist. Auster erfindet 1985 in "City of Glass" Quinn, Quinn erfindet Wilson, Wilson erfindet Work. Quinn muss den Autor Auster finden, um die verwickelte Telefonverwechslung vom Anfang der Romanhandlung zu klären, in der Stillman versucht Auster anzurufen, aber Quinn abhob. Auster (in Austers Roman) beschäftigt sich gerade mit einem Aufsatz über die schwierige narrative Ausgangssituation von Cervantes "Don Quijote". Dort sagt Auster zu Quinn: "Es ist ganz einfach. Cervantes gibt sich, wie Sie sich erinnern werden, die größte Mühe, den Leser davon zu überzeugen, dass er nicht der Autor ist …" Ein Verwirrspiel, das letztlich dem Zweck gedient habe, dass Sancho Pansa versucht habe, Quijote einen Spiegel vorzuhalten, um ihn von seinen Selbsttäuschungen zu heilen.

 

Vorbemerkung 4: In der im vorherigen Text angesprochenen Geschichte von Johanna Amberg, die man dringend lesen sollte, kommen der Erzählerin große Zweifel, ob eine Emanzipation gegen den Willen ihrer Schöpferin funktionieren könne. "Ich bin gefangen und verloren in einer Welt, in der ich nicht existiere." Sehr beeindruckend auf drei Seiten.

 

Vorbemerkung 5: Ich muss dringend Denis Diderots "Jacques der Fatalist und sein Herr" lesen.

 

Vorbemerkung 6: Im zweiten Kapitel von Salman Rushdies "Quichotte" wird geschildert, wie der unter dem Pseudonym Sam DuChamp schreibende Autor, hier 'Bruder' genannt, indischer Abstammung die Idee in Angriff genommen habe, ein radikal anderes Buch zu schreiben, die Geschichte des verrückten Quichotte, eigentlich Ismael Smile, pharmazeutischer Handelsvertreter indischer Herkunft, auf seiner Quest, die Liebe der Herzensdame Salma R. zu gewinnen, einer Talkshowqueen indischer Herkunft.

 

Vorbemerkung 7: Salman Rushdie hat mir, wahrscheinlich Stefan, eine wichtige Signatur unter mein Buch gesetzt.

 

Kurzer Hauptteil: Ab dem zweiten Kapitel hat mich Rushdies neuer Roman in seinen Bann geschlagen und ein Lesefieber ergriff mich, für das rätselhaft bleibt, woher ich die Zeit dafür nehmen konnte. Als ich dann noch erfuhr, dass Rushdie Montag in Berlin, Dienstag in Hamburg, Mittwoch in Köln usw. bis Wien im deutschsprachigen Raum las, musste ich ihn sehen. Rushdie war in meiner Erinnerung als der Autor abgespeichert, der, von der Morddrohung des iranischen Regimes gefährdet, im Untergrund lebt. Schnell wird mir klar, dass dieses Thema immer angesprochen wird, wenn er vorgestellt oder in einem Interview befragt wird. Trotz der Tragweite dieses Kapitels seines Lebens wird mittlerweile schnell deutlich, dass Rushdie darauf Wert legt, heute in einer anderen Lebenssituation wahrgenommen zu werden. Sein Alltag hat augenscheinlich nichts mehr mit der immer wieder in Erinnerung gerufenen Realität des Untergetauchtseins zu tun. Er fühle sich nicht mehr bedroht. Wenn man recherchiert, wird man herausfinden, dass es neben dem Feuilleton in den letzten Jahren in den USA eine durchaus stattliche Präsens seiner Person im Boulevardteil der Presse gegeben hat. Auf der Bühne im Altonaer Theater wird er befragt: Warum diese Explosion an Verwirrung, die zigfachen Anspielungen der Namen - warum die biografischen Einsprengsel bei den wichtigsten Charakteren, überall finden sich Bezugspunkte zu seiner Vita, selbst der in die leicht verpixelte Existenz gerufene Sohn Quichottes Sancho hat eine Schnittmenge, die des geteilten Geburtstages. Seine Antwort: "To confuse you …" Man kann im Fall Rushdies verstehen, dass die Suche nach dem Autor im Werk eine große Motivationskraft der Rezeptionsindustrie freigesetzt hat … und Rushdie spielt damit, vielleicht um in einem zweiten Anlauf die Aufmerksamkeit der Leser auf die dringlichen Themen oder das spielerische Gestaltungsmoment des Buches zu lenken, das aber ebenfalls einem tief begriffenen Zweck dient. 

Für die Fülle der Themen dieses Romans ist an dieser Stelle nicht der Ort. Rassismus. Die USA in der Phase des Populismus und der lauernden Gefahr der Machtübernahme der Intoleranz und des Hasses. Fentanyl, die Droge, die in ihrem Dumpfungspotential tausende von Todesopfern fordert … Rushdie verweist auf den Tod seiner jüngeren Schwester, aber auch den des Popsängers Prince. Der in Auflösung begriffenen … Realität einer Zeit. Die Fülle der Reize, dieses Themengewitter setzt beim Lesen ähnliche Muster frei bzw. führt zu einer ähnlichen Symptomatik, die auch durch den unkontrollierten Fernsehkonsum beim Protagonisten Smile diagnostiziert werden kann. Das Auseinandersetzung mit dieser Fülle zerbröselt schnell, sobald man das Buch einmal aus der Hand gelegt hat. Doch gleichzeitig hallt es nach, Bruchstücke aus dem Gelesenen verbinden sich mit der Alltagsbetrachtung. Dies zeigt sich meiner Meinung nach am stärksten um die Ausgestaltung rund um den Charakter von Sancho. Salman Rushdie erzählt virtuos. Er schaut mit einem Facettenauge und gleichzeitiger unerbittlicher Schärfe einer jeden einzelnen Blicknahme unserer in ihrer Komplexität kaum beherrschbaren Gegenwart. Stabilität liefert die stoische Gewissheit des Reisenden Quichotte: "Die geheime Annäherung an Miss Salma R. lag noch ein Stück voraus, in der schrumpfenden Zukunft der Welt."

 

Schlussbemerkung 1: Es ist beeindruckend zu sehen, welche Schaffenskraft von Salman Rushdie mit Anfang 70 ausgeht und wie selbstsicher er sein Wirken als Schriftsteller begreifen kann. Er schildert, wie er eine zunächst angedachte Reise durch die USA vor dem Schreiben des Romans nicht angetreten habe, um sie lieber mit seiner Imaginationskraft in aller Fülle erleben und ausgestalten zu können. Diese Reise mit seinem Sohn sei nach der Fertigstellung seines Romans möglich - allerdings nicht in einem Chevy Cruze … hier ist Rushdie Großbürger. Mit seinem Sohn am Steuer, das gehe in Ordnung, … hier ist er wahrscheinlich stolzer Vater. 

"Ja", er habe Angst gehabt, sich dem großen Stoff Cervantes zu stellen, darum gehe es, eine solche Angst zu überwinden und die Aufgabe anzugehen. Hier hat er Kafka verstanden und überwunden. Hier ist er einer der großen Schriftsteller unserer Gegenwart. "... no, it's orange", hier ist er wie in jedem seiner gesprochenen Sätze treffsicher und positioniert, und es gibt jemanden … den wir hier nicht erwähnen - he who must not be named … his hair is orange!

 

Schlussbemerkung 2: Salman Rushdie wollte laut eigenem Bekunden kein narratives Spiel der russischen Puppe in der Puppe usw., dann trug die Idee dazu … sie wurde vom Lektorat für gut befunden, er beließ es beim komplexen Aufbau, auch wenn die Story im einfachen Plot ihm als Alternativentwurf zur Verfügung gestanden habe und seines Ermessens nach auch ausgereicht hätte. Genau diese Über-Komplexität fand ich bis zur Seite 73 eher zweifelhaft. Auf Seite 73 gewinnt sie Bedeutung und überlegte Berechtigung:

 

Man mag anführen, Geschichten sollten nicht so ausufern, sie sollten an dem einen oder anderen Ort angesiedelt sein, Wurzeln schlagen an dem anderen oder einen Ort und in diesem einen Boden erblühen; doch viele der heutigen Geschichten sind und müssen von dieser pluralistischen, ausufernden Art sein, denn im Leben der Menschen und in ihren Beziehungen hat so etwas wie eine nukleare Spaltung stattgefunden, Familien werden getrennt, Millionen und Abermillionen von uns …

 

Schlussbemerkung 3: Hier höre ich auf. Die Naturgesetze bleiben intakt. Ich danke der Fotografin Stefanie Kapra für die sehr gelungenen Portraits von Salman Rushdie und den netten Kontakt sowie der Hamburger Buchhandlung Heymann für die Gestaltung dieser Lesung … einem Erlebnis, das die 900km hin und zurück in einem kleinen Roadmovie nach und vor Arbeitsbeginn rechtfertigte.

Fotos: Links Salman Rushdie mit Christian Heymann, (c) Stefanie Kapra, Buchhandlung Heymann - Mitte und rechts: Zwei wichtige Signaturen im Herbst.

Schnipsel 165: Ian McEwan featuring Kafka - "The Cockroach" vs. Eispanzer

Foto: Das Ursprungsfoto ist gemeinfrei auf Wikimedia Commons zu finden. Es zeigt einen altehrwürdigen Corridor, dessen Stufen in Ian McEwans Erzählung "The Cockroach" von Kakerlaken bis ins Dachstübchen eingenommen werden. Der Schriftzug ist schwer dechiffrierbar.

Im September 2019 hat der britische Schriftsteller Ian McEwan seine Novelle "The Cockroach" veröffentlicht. Auf der ersten Seite erwacht Jim Sams - clever aber ohne Tiefgang - aus unruhigen Träumen, um festzustellen, dass er zu einer gigantischen Kreatur mutiert ist. Er braucht etwas Zeit, um Kontrolle über den seltsamen Körper der Kreatur zu gewinnen, dessen geringe Anzahl an Gliedern ihn irritiert, genauso wie der seltsame Fleischlappen in der Mundhöhle, der entsetzt Zähne ertastet ... er vermisst die flimmernden Beine seines vertrauten Wesens in der Rückenlage.

Ian McEwan wagt sich an Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" heran und - um es vorwegzunehmen - die Wandlung der Wandlung, die Schilderung der Umwertung aller Werte gelingt meisterlich. Eine Kakerlake wird im Oberstübchen eines europäischen Machtzentrums zum Menschen, scheinbar. Jeder Satz an dieser Stelle zu viel, würde den Lesegenuss der Lektüre mit seinen klugen und bissigen Überraschungsmomenten mindern. Das Lachen bleibt einem oft im Halse stecken, zeigt McEwans Politsatire die wahren Drahtzieher und das wahre Gesicht des schabenhaften Populismus. Das Komplott der alten Überlebenskünstler der Gossen, ihre pheromonale  Vernetzung und ihr ruchloser Instinkt gefährden ein zerbrechliches Wertesystem, das immerhin über viele Jahrzehnte zumindest in Europa ein friedliches Miteinander gewährleistete. Eine europäische Kanzlerin wird in der Lektüre einmal fragen: "Warum?" Sie erntet die Antwort "Weil!"

Wer die Profiteure sind, ist bei McEwan am Ende eindeutig. Ihre Art ist mit den Echsen verwandt, ihre Panzer zäher als die Erfindungen der jüngeren Spezies, deren gegenüberliegender Daumen beim Greifen nur kurz bewundert wird. Allen Facetten des weltweit drohenden Kollapses eines so fragilen Systems wie der Demokratie(n) wird der Autor nicht gerecht, aber er seziert meisterlich und legt die zugrunde liegenden Machtmechanismen frei. Kafkas zur Genüge wiederholtes Postulat, dass ein Buch eine Axt sein müsse für das gefrorene Meer in uns, ist bei McEwan weiter zu fassen. Das Uns ist gesamtgesellschaftlich herausgefordert, die Eisstarre zu verlassen, wenn einen das Buch fragt, welche Signale wir noch brauchen, die Vorgehensweise der Zündler in ihrem tatsächlichen Gefahrenpotential zu verstehen und ihm Einhalt zu gebieten.

Schnipsel 166: Robert Louis Stevensons niedrigster Preis

Fotos v.l.n.r.: Der Blick durch die Uhr im Musée d'Orsay in Paris (Carlos Reusser Monsalvez), Hawaii von oben (Nasa) und Robert Louis Stevenson (Henry Walter Barnett) - (alle auf Wikimedia Commons, public domain).

Ian McEwans Reversalists stehen in Opposition zu den Clockwisers. Der scheinbare Clou, mit dem das Empire wieder zur wirtschaftlichen Supermacht avancieren soll, ist die Einführung einer umgekehrten Geldflusslogik, die ungeahnten Konsum, schwindelerregende Produktion und tatsächlich grenzenlosen Wohlstand bringen soll. Die Kabinettsbegeisterung kennt keine Grenzen, die Einführung einer 10 Pfund Turbogedenkmünze soll den lang ersehnten Tag der Wende krönen ... das Prägemotiv: eine spiegelverkehrte Uhr, die die Laufrichtung des clockwise - also im Uhrzeigersinn ablöst. Nur ein einsamer Kritiker kann seinen Spott nicht unterdrücken und schlägt lakonisch on the reverse, also die Rückseite der Münze vor, auf die das neue Symbol geprägt werden sollte. Die Umkehr des Wirtschaftssystems mutet in "The Cockroach" absurd an und wird zum makabren Spiel mit dem Feuer, hat aber grundsätzlich in unserer realen Gegenwart ihre Vordenker z.B. in den Befürwortern der Idee eines Grundeinkommens bzw. Kritikern eines zum Kollaps verurteilten munteren Weiter-So des steten Wachstums. (Erneut könnte man auf Robert und Edward Skidelsky Buch "Wie viel ist genug?" verweisen, das in Schnipsel 127 Erwähnung fand.) Die Schnapsidee der Umkehrung des Geldflusses ist für McEwan in "The Cockroach" allerdings vielmehr ein Gedankenexperiment, das in der Analogie die Absurdität des Austritts Großbritanniens aus der EU verdeutlichen soll, als eine Systemkritik am Kapitalismus.

Da dies ein literarischer Sammelband für Ideen im Einklebbildchenformat ist, bin ich froh, den Hinweis auf den schottischen Dichter Robert Louis Stevenson erhalten zu haben. Bekannt ist er für seine Erzählung "Die Schatzinsel" - "Treasure Island" - ein Sehnsuchtsort, der die Abenteurer mit der Aussicht unermesslichen Reichtums lockt, für den hohe Preise bezahlt werden. Weit weniger bekannt ist seine Erzählung vom Flaschengeist, "The Bottle Imp", in der erneut eine teuflische Fußnote im Kleingedruckten Existenzen gefährdet, und die mit dem Teufelspakt Peter Schlemihls in Adelbert von Chamissos gleichnamiger Erzählung verglichen werden kann. Robert Louis Stevenson entführt uns in das exotische, malerische Setting der Südsee, nach Hawaii. Es ist auch an diesem Ort tatsächlich der Teufel, der seine Gefährlichkeit und Tücke demonstriert, indem er einmal mehr die Fallschlingen um den Traum von Besitz und Luxus auslegt. Der Autor Stevenson reiht sich mit dieser Erzählung in die Reihe der Kreativgeister ein, die mit Finesse ein scheinbar stabiles, auf Profit fußendes System des Mehrwerts gedanklich aushebeln. Das kleine, unzerbrechliche Fläschchen mit dem schockierend hässlichen Kobold / Imp im Bauch, erfüllt Wünsche und bringt Geldsegen - doch die Besitzer leben mit der Gefahr im Nacken, der letzte Eigentümer und somit auch Verdammter in alle Ewigkeit zu sein, sollten sie ableben, bevor das Fläschchen in die Hand eines nächsten hoffnungsvollen Abnehmers weiterverkauft wurde … zu einem geringeren Preis bei voller Offenlegung der Bedingungen und Gefahren. Keawe aus Hawaii ist wahrscheinlich der Vorletzte, dem der Weiterverkauf gelingt. Die Details sollte man tatsächlich nachlesen bzw. in einer englischen Lesung auf sich wirken lassen, die frei zugänglich ist. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bottle_Imp_Stevenson_dsg.ogg) Etwas zum geringeren Preis verkaufen, gerät an einen Grenzwert, der vielleicht in einer Welt begrenzter Ressourcen genauso logisch nachvollziehbar ist wie das Infragestellen eines grenzenlosen Mehrwerts.

Doch diese abstrakten Worte werden der tieferen Botschaft von Stevensons Erzählung nicht gerecht. Das Meisterliche an ihr ist, dass die Befreiung aus der scheinbar unausweichlichen Schlinge der Verdammnis den liebenden Keawe und Kokua, beide opferbereit bis zum Äußersten,  nur zu zweit gelingt, und dies auch nur nach schonungsloser Offenbarung des verzweifelten Besitzers der teuflischen Gefahr. Keawe erklärt Kokua, unter welcher Gefahr er lebt, und warum er diese eingegangen ist. Doch die Tücke des Teufels wäre nicht überlistet worden, auch nicht mit dem Kniff, einen Ort zu finden, an dem polynesische Centimes noch weniger wert sind als Hawaiianische Cents, wenn es nicht einen Preis gegeben hätte, der sich nicht erniedrigt, noch niedriger zu sein als das sprichwörtlich letzte Hemd. Es ist der tragische Preis der ... ,  das kann man besser nachlesen.

Bilder Hawaiianischer Dollars (auf Wikimedia Commons, public domain); das Bild darunter: Die im Dubliner Volksmund 'Ha'penny Bridge' genannte Fußgängerbrücke  von Arbol01: Half Penny Bridge A, neuer Zuschnitt (CC BY-SA 3.0). 

Einen halben Penny, zu dessen Währungswert es auch eine kleine Münze gab, mussten die Dubliner nach Fertigstellung der Brücke berappen, um über die Liffey zu gehen. Das Foto oben zeigt im Hintergrund die weniger pittoreske Uferseite ... mit der Zentralbank. Ich konnte noch nicht recherchieren, ob eine Meldung fakenews sind, wonach die Brücke von der Bank of China zum Entsetzen der Dubliner gekauft wurde und nun eine Umbenennung droht. Brechts Zitat werde ich hier nicht bemühen, oder doch?

Schnipsel 167: Kurzer Blick in die Karibik

Es ist das Boot Ernest Hemingways, die Bilder meines Freundes Udo darf ich hier veröffentlichen. Er versicherte mir, dass ich heutzutage kein Bild des Hauses von Hemingway ohne Touristen fotografieren könnte. Da es hier nicht um Hemingway, sondern vielleicht um einen Gegenentwurf geht, der etwas klapprig und in die Jahre gekommen scheint, bleiben zunächst die Bilder für sich stehen ... ich müsste mir erst ein eigenes Bild machen.

(c) Udo Kessler

Schnipsel 168: Der hohe Preis der Entsymbiotisierung mit Handschuhreiniger

(c) Stefan Scheffler

Der Verkäufer der besonderen Tränke in John Colliers Kurzgeschichte "Das Tränklein" weiß, nach welchen Regeln die Nachfrage die Angebotspreise bestimmt. Sein besonderes Geschick besteht allerdings darin, Konsequenzen eines fatalen Fehlkaufes miteinzukalkulieren bzw. für diesen die trügerische Fährte auszulegen. In seinem Segment könnte man in ihm einen Monopolisten in Manipulations- und Allzweckreinigungstinkturen sehen, einen Experten strategischer Produktaufstellung, der schlau begriffen hat, dass im Gegengift die eigentliche Profitmarge zu erzielen ist.

In seiner Not wendet sich ein nervöser Mr. Auster an den berüchtigten Händler außergewöhnlicher Tropfen. Seine Freundin scheint ihm allzu partysüchtig und zu wenig auf ihn fixiert. Mit dem Liebestrank für einen Dollar sei das Problem zu beheben. Der gewitzte Alte schildert alle Nebenwirkungen einer klammernden und symbiotischen Liebesbindung, die sich der Junge so ersehnt. "She will want to be everything to you." Ein Spottpreis, bedenkt man, dass der Handschuhreiniger - nur ein Teelöffel von ihm - 5000 Dollar kostet. Dieser Reiniger reinigt alles Mögliche, nicht nur Handschuhe und in seiner Anwendung Lebendiges ziemlich endgültig. Mr. Austers "Good-bye" wird mit einem wissenden "Au revoir" erwidert ... Sehr lesenswert, z.B. in der Ausgabe "22 Short Shorts / 22 kurze Kurzgeschichten" bei dtv.

Schnipsel 169: Apotheose

In Rom steht der Sockel einer Säule, auf der die Apotheose, die Gottwerdung des römischen Kaisers Antonius Pius und seiner Frau Faustina dargestellt wird, die von einem Genius in den Himmel getragen werden. Die Erklärung, was ein Genius genau ist und was es mit dieser Säule auf sich hat, habe ich von einem Schüler der Jahrgangsstufe 13 gelernt. Er hat mit seinem Kunst studierenden Cousin die Darstellung dieser Apotheose auf den Ideengehalt Goethes Faust-Tragödie bezogen. Ich muss mir noch die Genehmigung einholen, die entstandene Zeichnung von Herrn Reich an dieser Stelle veröffentlichen zu dürfen. Übrigens war die Säule lange Zeit nur auf einer römischen Sesterze überliefert, bevor sie 1703 tatsächlich entdeckt und ausgegraben wurde. Spannende Zusammenhänge, auch der von genius und Kreativität.

Die Sesterzen (links und rechts) auf Wikimedia Commons, public domain; der abgelichtete Sockel der Pius Säule (Mitte) stammt von LalupaMusei vaticani - base colonna antonina 01106 (CC BY-SA 3.0). Das Bild wurde von mir leicht bearbeitet und neu zugeschnitten. 

Schnipsel 170: Signed Dreams

Wenn ein Autor sein Buch signiert, steigert es dessen Preis um Sesterzen, Pennies, Centimes oder ideell bis dorthinaus, wo der Preis zum Wert wird. Was wäre, wenn ..., was wäre, wenn einen in Zeiten des Populismus und der personae non gratae in einstmals integren Ämtern der Hauch eines charismatischen Hoffnungsträgers in Gestalt Filzstift-auf-Deckblatt umwehte. Wenn dann der Titel noch verheißungsvoll den großen amerikanischen Traum mit den großen Träumen des eigenen Vaters verschmölze, ... dann wäre die Frage zu klären, ob man keinem Fake oder Fälscher aufgesessen wäre. Ein Fotograf im Amt der U.S. Regierung veröffentlicht ohne Profit-Rechte am Bild. So entstand ein Bild durch Pete Souza, das die Signatur des Präsidenten auf einem Gesundheitszentrum festhält. Seltsamerweise scheint der Würdenträger im Wort dreame einen Schreibfehler eingebaut zu haben, das letzte e ist aber sein handschriftliches s. Das festgehaltene Graffiti vermittelt mir Gewissheit, dass meine Signatur echt ist. Welchen Wert hätte das Büchlein, wenn man sich anschicken könnte, im Besitz eines mächtigen Rechtschreibfehlers zu sein - ideell keinen. Ich glaube ich zitiere hier einmal meinen Freund Jean-Pierre Letourneur mit den Worten des letzten Korrekturlesens: "Wer einen Rechtschreibfehler findet, darf ihn behalten." Das gilt übrigens für alle Texte dieses Blckos, der noch nicht Krrekotur gelesen ist.