Schnipsel 151: Sommerpause

Aufschrift auf der Zwingli-Treppe in Marburg neben der Lutherischen Pfarrkirche, (c) Stefan Scheffler

Schnipsel 152: Paolo Giordanos Primzahlen

2760889966649 und 2760889966651 sind große Zahlen, denen Paolo Giordano eine große Wahrheit abringen kann. In der Auseinandersetzung mit Karl Popper traf ich zum ersten Mal auf diese geheimnisvollen Zwillingspaare der Primzahlen (vgl. Text 91). Genauer gesagt, sind es keine wirklichen Zwillinge, es sind Zahlen, die die Gesetzte der Mathematik engstmöglich zusammenrückt, ohne dass sie sich je werden berühren können, da eine Zahl immer zwischen ihnen stehen wird … eine nicht zu überwindende Distanz, die die Primzahlen, die nur durch 1 oder sich selbst teilbar sind, nie in einen direkten Kontakt mit ihresgleichen treten lässt. Zwischen ihnen steht immer eine Zahl, die mindestens noch durch zwei teilbar ist. Am Anfang der Zahlenreihe sind diese Zwillingspaare häufig: 3 und 5, 5 und 7, 11 und 13. Bis heute steht der Beweis aus, ob es in der Abfolge Richtung Unendlichkeit ein letztes "Zwillings"-Paar gibt, im Abstand mehrerer Jahre findet der Zähleifer ein jeweils vorläufig größtes Paar, das den Rekord auf Zeit für sich in Anspruch nehmen darf.

Die Traumata der Kinder Alice Della Rocca und Mattia Balossino lösen beim Lesen der Anfangskapitel des Romans "Die Einsamkeit der Primzahlen" von Paolo Giordano bereits nach wenigen Seiten den Wunsch aus, das Buch beiseite legen zu wollen, um den sich zweifach anbahnenden Lebenstragödien entfliehen zu können. Die Schicksale dieser beiden Kinder treffen in ihren gleichen Polen auf der Skala des Unglücks zusammen, die Anziehungskraft scheitert an der Naturgesetzlichkeit der Trennungskraft oder Abstoßung, die durch die Kindheitstragödien in den Wesen der Charaktere entstanden ist. Über diese Trennung, die eine Stelle, die zwischen diesen beiden Menschen am Ende bleibt, ließe sich vieles Schreiben, besser man erliest sich jedoch diese Geschichte Giordanos, da sie lange nachhallt, auch im Trost, dass zwei Menschen, die als Jugendliche Kopf an Fuß und Fuß am Kopf im Bett liegen, dann die vergilbte Brautkleidung eines Elternpaares ausprobieren, um am Ende nur einen weiteren Riss zu erleben, trotzdem ein Leben mit tiefen Erkenntnissen gewonnen haben werden, trotz der Trauer über die Unerreichbarkeit des so nahen Gleichen.

Das ungelöste Rätsel, ob jemals ein Rhythmus der Wiederkehr der Primzahlen gefunden wird, oder ob ein letztes tragisches "Zwillings"-Paar in der möglicherweise ewigen Reihe zu finden sein wird, ist spannend - wohl zumindest für Mathematiker - schöner das Wort, das diesem Rätsel in seinem heutigen Wissensstand zur Seite tritt: Unstetigkeit. Ein unsteter Rhythmus innerhalb des scheinbar steten Gleichmaßes der Abfolge von Zahlen, ein Sprengsel, eine Spur des schöpferischen Prinzips unsteter Progression. Ein niederländischer Ingenieur Theo Kortekaas weist in einer Homepage zur Primzahlenfrage im Verweis auf Giordano darauf hin, ob der Begriff der Einsamkeit tatsächlich auf die engen Paare wie 5  und 7 usw. anzuwenden sei oder doch eher auf diejenigen Primzahlen, die zur nächsten Primzahl zum Teil eine Billion Ziffern zu überwinden hätten …  https://tonjanee.home.xs4all.nl/prime.html 

Die Bilder dieses Eintrages entstanden im Mathematikum in Gießen, mein herzlicher Dank für die Erlaubnis zur Veröffentlichung gilt Professor Albrecht Beutelspacher, Gründer und Direktor des Museums.

In der Mitte ein weiteres Beispiel für Unstetigkeit - die Kreiszahl Pi; daneben eine Mechanik, die in die Unendlichkeit weist: Der Ablauf wurde 2014 in Gang gesetzt, das letzte Rad wird sich in ca. 2 Billarden Jahren um einen Millimeter bewegt haben, nous verrons ...

Fotos (c) Stefan Scheffler

Schnipsel 153: Primus in St. Gallen

(c) Stefan Scheffler

Kinder fragen danach, was das erste Wort gewesen sei, wer die Wörter erfunden habe, wer der erste gewesen sei, der die Sprache erfunden habe, oder auch nur, warum die Tasse Tasse und die Katze Katze heiße. Die Suche nach den Ursprüngen, den gemeinsamen Wurzeln der Sprache ist in den Menschen angelegt. Abstrakte Erklärungen oder theorielastige Verweise auf das Indogermanische oder die vielleicht nur vermutbaren gemeinsamen frühen Silben des Ma oder Om sind dann zumeist nicht griffig genug, um den Ich-will-es-aber-wissen-Drang zu stillen. Dabei tragen wir sicherlich durch die sprachliche Tradierung das Band zu den sprachlichen Ursprüngen genauso in uns wie biologisch das Band zu den ersten lebendigen Zuckungen auf diesem Planeten. Vielleicht hätten sich meine Kinder bereits damit zufriedengegeben, das erste Wort auf Deutsch zu erfahren. Die Germanen waren aber zunächst keine fleißigen Schreiber, und so bleibt es - wie Thomas Mann sagen würde - tief im Brunnen der Vergangenheit verborgen, unergründlich.

Ganz in der Nähe der Gebirgsidylle oben findet sich ein Ort, an dem der irische Mönch Gallus zum Einhalt gezwungen wurde und sich in der Folge eine Klosteranlage etablierte, in deren Mauern bis heute einzigartige frühe Zeugnisse unserer Zivilisation verwahrt werden. Der Barocksaal der weltberühmten St. Gallener Stiftsbibliothek ist beeindruckend. Die sind Tickets teuer und das Verbot, fotografieren zu dürfen, ist schmerzhaft vernünftig. Ich weiß nicht, was für eine Szene ich mir in meiner Erwartungshaltung zurecht gelegt hatte, sie war auf jeden Fall aber näher an einer Dan Brown Verfilmung "Professor-Langdon-bricht-in-die-Vatikanische-Bibliothek-ein" als an der prosaischen Realität zusammen mit dutzenden Touristen in Filzpantoffeln schlüpfen zu müssen und dann zugegebenermaßen von der Pracht dieses Bücher so wertschätzenden Saales tief ergriffen zu werden, auch wenn ich die Nibelungen-Handschrift meiner Hausarbeit (vgl. Schnipsel 72) nicht ausgestellt fand. Ein netter Museumsmitarbeiter, der gerade eine Reisegruppe geführt hatte, hörte meine Nachfrage nach der St. Gallener Handschrift mit emporgezogenen Brauen und großem Wohlwollen an. Ja, die müsse man mal wieder zeigen, dann verwies er mich auf den Keller … tatsächlich reichten einige Worte und mir war bewusst, dass ich in diesem wunderschönen Saal am falschen Ort war. 

Wenn die Schweizer etwas sicher machen, sieht es aus wie in James Bond Filmen oder aber auch wie in einer weiteren Dan Brown Szene aus Sakrileg. Der Zauber des Ortes der alten Handschriften und Bücher im Untergeschoss des Bibliotheksgebäudes leidet aber nicht unter der Hightech-Orgie. Die Ehrfurcht trifft einen auch durch zentimeterdicke Panzerglasscheiben der Vitrinen. Hier liegt der Abrogans, den ich aus dem Proseminar Mittelhochdeutsch kennengelernt hatte, das älteste Buch mit deutschen Wörtern. (Da man auch hier nicht fotografieren darf, lohnt die Suche nach Bildern an anderer Stelle.) Die Handschrift aus dem 8. Jahrhundert ist streng genommen ein Wörterbuch alphabetisch geordneter lateinischer Wörter mit deren deutscher Übersetzung. "Abrogans" ist schlicht und ergreifend der erste lateinische Begriff, der dem ersten "deutschen Buch" den Namen verlieh. (Wie ich mittlerweile aus einem Interview mit dem Schweizer Schriftsteller Franz Hohler erfahren habe, dessen Roman "Das Päckchen" den Abrogans in ein fiktives bibliophiles Abenteuer schickt, ist das Wort Abrogans äußerst selten und es scheint tatsächlich vorstellbar, dass es gewählt wurde, um das erste deutsche Wort an prominenter Stelle zu platzieren … https://www.youtube.com/watch?v=NW8tz-Nw6P0

Was ist also das erste Wort, das wir im ersten deutschen Buch platziert finden ... meine Überraschung war mich überwältigend: dhemodi. Zur Sicherheit hat der Schreiber noch die Alternativen humilii und samft moadi hinzugefügt. Ohne Worte!

Foto: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 911, p. 4 – Abrogans - Vocabularius (Keronis) et Alia (https://www.e-codices.ch/en/list/one/csg/0911), geschnitten, neu kontrastiert (CC BY-NC 4.0).

Ein sympathisches Fleckchen Schweiz, der Innenhof des Klosters dient als Handballfeld … da lohnt sich ein Blick in die Fotos unter dem Menüeintrag About Me, in Italien fand ich den Fußballplatz ebenfalls am Kirchengebäude.

Schnipsel 154: Ein Wort

(c) Stefan Scheffler

Nicht weit von St. Gallen im österreichischen Vorarlberg findet sich auf einer Wanderroute unweit des Ortes Nenzing jene seltsame Installation, über deren Hintergrund ich nichts weiß. Eine Assoziationskette setzt sich natürlich in Gang. Abrogans, Wort ... Gottfried Benn Ein Wort: "Ein Wort, ein Satz - : Aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn ..." bis heute irritiert mich der Gedankenstrich vor dem Doppelpunkt (vgl. dazu 181). Überstrapaziert Eichendorffs Wünschelrute: "Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort." Wieder sehe ich mich in den Seminaren von Professor Glück oder Voß. Der Eintrag zu Alexander van der Bellen "Die Macht des Wortes I" (vgl. 86) fällt mir ein oder Roland Kaehlbrandts Lexikon der schönen Wörter, "Demut" steht drin, "unverblümt" hätte ich noch aufgenommen ... 

Das Wort "unverblümt" tauchte während der Lektüre Eduardo Mendozas Mauricios Wahl aus der Versunkenheit im Lesen auf, herauf in eine weiter oben liegende Ebene, in der mein weiterarbeitendes Nachdenken versucht, das Gelesene zu beschreiben, zu bewerten. "Lakonisch" nannte eine Kollegin die Prosa von Paul Auster, hier sehe ich eine Parallele ... dann finde ich bei Mendoza eine Stelle, an der die junge Anwältin versucht, ihren Freund von der Integrität ihrer wortklauberischen Tätigkeit als Strafverteidigerin zu überzeugen. "Wirklichkeit und Gerechtigkeit dürfen nicht auf einigen Syntaxfehlern gründen", hatte ihr Freund zu Bedenken gegeben. Ihre Antwort lautet: "Worauf denn sonst? Vielleicht gibt es in Zukunft unfehlbare wissenschaftliche Beweismittel, aber gegenwärtig haben wir keine andere Wirklichkeit als die Worte. Wenn die Worte versagen, stürzt die Wirklichkeit ein."

Mit dem Wort "Naba!" - "Hier!" bringt das Kind Mxolisi aus Sindiwe Magonas Mother to Mother seine Welt zum Einstürzen. Schon vor seiner Geburt war das Schweigen im Auto lauter als die zu übertönen suchende Musik, das Schweigen über das Entsetzen der ungewollten und nicht nachvollziehbaren Schwangerschaft Mandisas, die Mxolisi im Bauch trug. Die in Magonas Roman verzweigte Darstellung der Lebensumstände, die ihren Sohn zum Mitwirkenden machen während des Mordes an der weißen Studentin, die sich ins Township begab, lassen sich an dieser Stelle nicht vertiefen (... selbst der Roman endet mit dem Satz: "Er wäre kein Mörder geworden, noch nicht ..."), aber die Vorstufe interessiert mich an dieser Stelle, das Kind, das in einem unbeabsichtigten Verrat die Erschießung zweier vor der Polizei flüchtender Jungen auslöst und in der Folge verstummt. Trotz aller Versuche der Mutter ... "Mxolisi did everything except utter that word or cry or part of a word." Ein Verstummen als Reaktion auf ein Trauma findet sich auch bei Hanns-Josef Ortheil ... die Assoziationskette verliert sich im Wortlosen. In seinem Aufsatz Die Zerstörung der deutschen Literatur zitiert der Schweizer Literaturwissenschaftler Walter Muschg 1956 aus Karl Wolfskehls Sang aus dem Exil: "Und ob ihr tausend Worte habt: / Das Wort, das Wort ist tot." In seiner Bestandsaufnahme zum Zustand der Nachkriegskultur stellt Muschg daran anschließend fest: "Es gibt in diesem Europa die äußere und innere Stille nicht mehr, die zum Verständnis der Dichtersprache unentbehrlich ist. Lärm und Unruhe sind für die Meisten das neue Ideal.Tröstlich dann am Ende der Ausblick, welche Rolle den Dichtern der Zeit zukomme, tröstlich und aufrüttelnd das letzte Zitat von Jeremias Gotthelf, mit dem Walter Muschg seinen Aufsatz schließt:

 

Das Wort ist unendlich mächtiger als das Schwert, und wer es zu führen weiß in starker, weiser Hand, ist viel mächtiger als der mächtigste der Könige. Wenn die Hand erstirbt, welche das Schwert geführt, wird das Schwert mit der Hand begraben, und wie die Hand in Staub zerfällt, so wird vom Rost das Schwert verzehrt. Aber wenn im Tode der Mund sich schließt, aus dem das Wort gefangen, bleibt frei und lebendig das Wort ...

 

Das Zitat geht eigentlich noch etwas weiter, hier erfüllt es so seinen Dienst. Manchmal findet man ein Wort an ungewohntem Ort, das einen durchfährt ...

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 155: Keine Ampel am Alex - Döblin

(c) Luisa Scheffler

Wo würde er heute umherstreifen, die starke Kobra Franz Biberkopf in der Metropole, der Hure Babylon? Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz haben wir bei Frau Bremer im Deutschunterricht der Oberstufe gelesen. Ein Unterfangen, das auch schon vor vielen Jahren eigentlich zum Scheitern verurteilt war, da man mit 17 Jahren kaum knappe 500 Seiten Expressionismus verdauen kann. Da die erste Ampel am Potsdamer Platz steht und ich dazu eine Idee hatte, lag der Schluss nahe, Döblins Roman mit dieser Idee zu verbinden - die Frage, ob die bekannte Ampel bei Döblin vorkommt, bedeutete, das Buch noch einmal in die Hand zu nehmen und diesmal, ohne Lücken zu lassen, zu lesen ...

 

Die Schupo beherrscht gewaltig den Platz. Sie steht in mehreren Exemplaren auf dem Platz. Jedes Exemplar wirft Kennerblicke nach zwei Seiten und weiß die Verkehrsregeln auswendig. Es hat Wickelgamaschen an den Beinen, ein Gummiknüppel hängt ihm an der rechten Seite, die Arme schwenkt es horizontal von Westen nach Osten, da kann Norden, Süden nicht weiter, und der Osten ergießt sich nach Westen, der Westen nach Osten. Dann schaltet sich das Exemplar selbsttätig um: Der Norden ergießt sich nach Süden, der Süden nach Norden. Scharf ist der Schupo auf Taille gearbeitet. Auf seinen erfolgten Ruck laufen über den Platz in Richtung Königstraße etwa 30 private Personen, sie halten zum Teil auf die Schutzinsel, ein Teil erreicht glatt die Gegenseite und wandert auf Holz weiter. Ebenso viele haben sich nach Osten aufgemacht, sie sind den anderen entgegen geschwommen, es ist ihnen ebenso gegangen, aber keinem ist was passiert. Es sind Männer, Frauen und Kinder, die letzteren meist an der Hand von Frauen. Sie alle aufzuzählen und ihr Schicksal zu beschreiben, ist schwer möglich, es könnte nur bei einigen gelingen.

 

Keine Ampel, ein zur Sache gewordener Polizist regelt hier den Großstadtfluss der Massen. Keine Ampel, dafür entdecke ich Gießen:

 

Es geht in den November. […] Der Graf Zeppelin kommt bei unsichtigem Wetter über Berlin an, sternklar ist der Himmel, als er 2,17 Friedrichshafen verläßt. Um das schlechte Wetter, das aus Deutschland Mitteldeutschland gemeldet wurde, zu umgehen, nimmt das Luftschiff seinen Weg über Stuttgart, Darmstadt, Frankfurt am Main, Gießen, Kassel, Rathenow.

 

Die Kraft von Alfred Döblin Großstadtcollage zieht mich in ihren Bann. Die Frage, inwieweit Joyces Ulysses Pate stand, wurde hinreichend erforscht und thematisiert. (Völlig aus dem Zusammenhang gerissen stellte die Zeile "Hüt dich, blau Blümlein" diese Verbindung zu Joyce her.) Döblin selbst nahm zu dem immer wiederkehrenden Gedanken selbst Stellung - letztlich führt dieser Faden zu nicht viel, da sie der ganz eigenen, wahren Darstellung Berlins als Großstadt nicht gerecht wird. Selbst meine Besuche als Kind im Berlin der 70er und 80er Jahre hatten Spuren hinterlassen, die ich bei der Lektüre in der Oberstufe wiedererkannte, erst recht das zweite Lesen verdeutlichte mir, wie authentisch in seiner Einzigartigkeit Döblin Berlin auf das Papier bannt, der geschilderte Ort und die Menschen in ihrem Milieu sind nur dort so zu finden, auch als Vertreter einer gehetzten Masse, deren Tragödie universelle Züge trägt. 

Deshalb ging es mir auch nicht um die Entdeckung Gießens in der Reihung der Überflugsorte des Zeppelins, auch wenn ich sicher bin, dass sie meinem Berliner Großvater aufgefallen wäre, der es mochte, seine Stadt mit den Orten der Familienmitglieder in Verbindung zu bringen, in die es sie nach 1948 und später versprengt hatte. Marburger Straße. Straßennamen schienen mir in Gesprächen der Berliner eine größere Häufigkeit, aber auch Bedeutung zu haben im Vergleich zu den Menschen meiner dörflich / kleinstädtischen Herkunft. Und so schiebt sich auch Franz Biberkopf wie Leopold Bloom über die Straßen und sie werden beharrlich benannt. Die Namen der Laufwege scheinen in den Zeiten des großen Aufrisses eine gewisse Festigkeit, zumindest Stetigkeit zu gewährleisten. Hinter den Bretterzäunen werden Häuser abgerissen, Gräben ausgehoben, neue, schnellere Möglichkeiten der Fortbewegung durchs Kreuz-und-Quer auf den Weg gebracht. Nicht nur hinter und neben den Bretterzäunen, auch im Untergrund, oder oben im Himmel auf den Wegen der sich vernetzenden Luftschifffahrt. Dieser Umtriebigkeit einen Kontrapunkt setzend, listet nur zwei Seiten zuvor Döblin die Sterbezahlen der Stadt von 1927 auf: "Für die Ruhe unserer Toten. In Berlin starben 1927 ohne Totgeborene: 48742 Personen. 4570 an Tuberkulose, 6443 an Krebs, 5656 an Herzleiden … usw."

Die Toten heben an in Kontakt mit dem Friedhofsbesucher Biberkopf zu treten - das Motiv Uwe Timms auf dem Invalidenfriedhof, aber dieser Faden würde mich hier auch nicht weiterführen - beim Lesen wusste ich, dass ich eine Ampel suchte, ich wusste aber nicht, was das Buch nach und nach mit mir anstellte. Es forderte mich heraus, nach einem Kern zu suchen, den ich greifen konnte, um den ich mein Leseerlebnis gruppieren konnte. Auf Seite 80 meiner Ausgabe schrappte ich einmal ganz knapp an der Ampel vorbei: "Er steht am Ausgang der Untergrundbahn Potsdamer Platz, in der Friedrichstraße an der Passage …", es ist doch wieder der Alex. Döblin schildert die Gewalt, die im Kampf zwischen den politischen Lagern des Kommunismus und des aufkommenden Nationalsozialismus aufkeimt. Biberkopf ist nicht der Mensch, der sich in politischen Lagern etabliert, er findet sich als Verkäufer des Stürmers wieder, war aber auch für die Kommunisten aktiv. Anders als bei Joseph Roth oder Erich Kästner richtet sich aber der Blick nicht seherisch auf diese Ebene der politischen Entwicklung Deutschlands. Ich bin überzeugt, dass ich auf der Ebene der künstlerischen Gestaltung suchen muss. Die Schilderung der Farben, expressionistischen Farbflecken, der Verzerrungen, Perspektivüberlagerungen, kippenden Bewegungsachsen oder gegen die Sehgewohnheiten arbeitenden Darstellungen seltsamer Bewegungsgeschwindigkeiten. Die Fahrt Biberkopfs in der Elektrischen weg vom Tegeler Gefängnis. Die Konzentrationen des Blicks auf die Details, der Ekel, der sich auf aufgespießten und in die Münder geführter Fleischstücke ergibt. Die Rutschenden Dächer als Angstvisionen im Schwindel, im Strudel des Haltverlusts - Parallelen zu Jakob van Hoddis Gedicht Weltende ergeben sich. Die Schlachtszenen im Schlachthaus - Upton Sinclairs The Jungle zeigt das Massaker an Vieh und Mensch bereits 1906. Die Tragödie dieses Mörders und Vergewaltigers Bieberkopf selbst, der zur Strecke gebracht wird, wie es bereits auf der ersten Seite in einer Art Prolog vorweggenommen wird … vieles begeistert mich, den Faden, der mich leiten könnte, finde ich immer noch nicht.

Wege und Verkehrswege, Aufrisse und Hektik der Großstadt in historischen Aufnahmen: v.l.n.r.: Der Zeppelin 1927 über der Siegessäule: Bundesarchiv, Bild 102-06615:  Berlin, "Graf Zeppelin" über der Siegessäule (CC BY-SA 3.0 DE); Tramszene mit dem Alexanderplatz im Hintergrund: Bundesarchiv, Bild 183-H0724-501-02: Berlin, Straßenbahnhaltestelle Alexanderstraße (CC BY-SA 3.0 DE); Aufriss an der Königsstraße 1909 (Antonia Meiners (Hrsg. / Ed.): Berlin. Photographien 1880–1930. Berlin 2002, p. 47) - (auf Wikimedia Commons, public domain).

Die Fotos helfen mir schließlich, den Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf im erzählten Setting einmontieren zu können.

 

Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch, und die Schienen haut sie wie nicht in den Boden.

Eisige Luft. Februar. Die Menschen gehen in Mänteln. Wer einen Pelz hat, trägt ihn, wer keinen hat, trägt keinen. [...]

Alles ist mit Brettern belegt. Die Berolina stand vor Tietz, eine Hand ausgestreckt, war ein kolossales Weib, die haben sie weggeschleppt. [...]

Über den Damm, sie legen alles hin, die ganzen Häuser an der Stadtbahn legen sie hin, woher sie das Geld haben, die Stadt Berlin ist reich, und wir bezahlen die Steuern. 

Loeser und Wolf mit dem Mosaikschild haben sie abgerissen, 20 Meter weiter steht er schon wieder auf, und drüben vor dem Bahnhof steht er noch mal. Loeser und Wolff, Berlin-Elbing, erstklassige Qualitäten in allen Geschmacksrichtungen, Brasil, Havanna, Mexiko, Kleine Trösterin, Liliput, Zigarre Nr. 8, das Stück 25 Pfennig ...

 

Der Beginn des fünften Kapitels ist groß. Alfred Döblin führt uns vor die Augen, was wir schon von Beginn an hätten sehen können. Ich habe meinen Anker gefunden. Die Welt des Konsums bildet die Kulisse, vor dem das Scheitern Franz Bieberkopfs angesiedelt ist. Es verbieten sich voreilige und lineare Schlussfolgerungen, das würde der Komplexität dieses Romans nicht gerecht werden, man sollte aber diese Allgegenwart der Reklametafeln, Slogans, kleinen Hinweise auf materielles Glück und gelebtes Unglücklichwerden im Scheitern zur Kenntnis nehmen. Ein Mann hängt sich auf, auch ein Massenschicksal auf einem Dachboden einer Großstadt, wenn Rechnungen nicht bezahlt werden können und das vorgegaukelte Kartenhaus der existenzsichernden Beschäftigung einstürzt. Döblin schildert die politische Krise vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Konsumkrake. Hier ist die Großstadt der Vorreiter, hier scheitern Menschen ohne Gärten, deren Hinterhöfe den Ausblick auf Warenlager geben und sie in Versuchung führen. Biberkopf versucht sich im Handel, im Verkauf ... der Leser verliert leicht den Durchblick, aber die Konsumslogans kriechen wie Riffs in die Wahrnehmung der Menschen. All die Werbetexte, die kleinen Hinweise auf probate und patente Mittelchen sind allgegenwärtig, das große Kaufhaus Tietz scheitert, das große Kaufhaus im Zerfall und im Wiederauferstehen für ein neues, größeres Konsum-Berlin ist auf allen Postkarten des Alexanderplatzes der Zeit zu sehen, wenn man die Blicklenkung versteht.

Ähnlich liegt den Buddenbrooks ein Wandel des Systems vom Kaufmannstum zum kapitalistischen Agrarhandel zugrunde, die Hagenströms können die Buddenbrooks als Vertreter einer neuen kapitalistischen Kaste ablösen. Nur ca. 20 Jahre später wird Arthur Miller das Gebäude des Selbstbetrugs des Kaufmanns Willy Loman in Death of a Salesman zum Einsturz bringen. 1927 ist Biberkopf ein Spielball, ein kleines Rädchen ... und im Nicht-Erkennen-Können, im sich Zerreiben liegt eine wesentliche Ursache der Tragödie, deren frühes Symptom das Nicht-Trauern-Können ist; Eva tastet sich einmal vor nach dem Verschwinden Miezes: "Daß du gar nicht betrübt bist, keene Träne -". Kurze Zeit später lautet eine Zwischenüberschrift: "Und siehe da, es waren Tränen derer, die Unrecht litten und hatten keine Tröster". Hier wird Franz weinen, in einer Ecke den Blickkontakt wegdrehend: "Ein Schluchzen, Schluchzen Wimmern hören sie, er weint um sich und die Mieze, sie hören es." Noch mal 60 Seiten weiter bei Miezes Beerdigung bricht der Damm: "Worüber aber, meine Damen und Herren, die ihr dies lest, weint Franz Biberkopf? Er weint darüber, daß er leidet und was er erleidet, und auch über sich." 

Am Ende rechnet der Tod erbarmungslos mit ihm ab, er habe die Augen nicht aufgemacht … wer schaut heute hin? Biberkopf kriegt im engen Kreis seiner Lebenstragödie die Kurve. Uns ruft das Romanende entgegen: "Wach sein, wach sein, es geht was vor in der Welt."

Foto: Stehend neben Thomas Mann: Alfred Döblin. Die Bildunterschrift lautet: Akademie der Künste, Berlin 1929 (Quelle: Comesana - Erich Salomon): Sitzend vorne rechts: Heinrich Mann (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 156: Das Halt

"... vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das – Halt!" Dieser Satz aus Kafkas Parabel "Auf der Galerie" hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und er drängt sich stets vor und wird zum lauten Gedanken, immer wenn ich ein System wahrnehme, dessen absurdes Sich-im-Kreis-Drehen vor dem Kollaps steht und nur noch notdürftig durch Schminke und Tücke in einer scheinbaren Rotationsstabilität gehalten wird. Die Mogelpackung ist in den zwei Sätzen des Originaltexts von Kafka sehr viel beständiger, nur die Tränen des Beobachters verweisen auf die Tragödie, die sich vor den betrogenen Augen des Zuschauers abspielt und ihn - wie so häufig bei Kafka - in einer Passivitätsstarre hält.

Greta Thunberg hält im September 2019 vor der UN eine Rede, die vielleicht das Potential hat, in einem Zug mit Martin Luther Kings "I have a Dream" genannt zu werden. "How dare you" ... "Wie könnt ihr es wagen" hat das Potential, mit Zolas "J'accuse ..." ins kollektive Sprachgedächtnis aufgenommen zu werden ... Häme und Schmäh leisten sich zwei der mächtigsten Männer als Reaktion. In Deutschland wagen sich weniger gewichtige Geister hervor. Der Hass auf ein sechzehnjähriges Mädchen ist kaum zu begreifen, noch weniger, wie selten die Empörung darüber ist. In Italien hängt eine Greta-Puppe mit Schmähparole über eine Brücke, meiner Beobachtung nach ein vorläufiger Höhepunktes dieses dunklen Hasses. Mit welchem Selbstbewusstsein muss man ausgestattet sein, welcher unentwickelten Gabe, Peinlichkeit für die eigene Rolle empfinden zu vermögen, um zu glauben, einer Sechzehnjährigen auf diese Art Einhalt gebieten zu können, die innerhalb eines Jahres aus der Rolle der Unbekanntheit heraus die Welt beeinflusste wie kein zweiter Mensch in der Zeit, die ich überblicke.

Einer ihrer Sätze vor der UN endete: "... und alles, worüber Ihr reden könnt, ist Geld und die Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum." Ein Halt!

Auf der Straße und in höchsten Häusern. Beide Fotos werden auf Wikimedia Commons unter der public domain Lizenz veröffentlicht. Links wird als Quelle Hadi genannt (aufgenommen während einer Klimaschutzdemonstration in Lausanne), rechts ein von der auf dem Bild zu sehenden Abgeordneten des U.S. Repräsentantenhauses Kathy Castor veröffentlichtes Bild während des Besuches von Greta Thunberg im Congress.

Schnipsel 157: Von Ampelmännchen und Überwindern

Karten gemeinfrei auf Wikimedia Commons, public domain

In der Ästhetik des geregelten Vorwärtskommens wird das Signal zum Loslegen und Gehen immer einen Vorteil haben, zum Sympathieträger vor dem roten Aufhalter zu avancieren. Der Glücksreflex, der von der  Erlaubnis zum Aufbruch zuverlässig ausgelöst wird, ist tief in uns verankert.

Zunächst einmal ist es sehr schwer, ein passendes Wort zu finden, das das menschliche Vorwärtsschreiten in einer Stadt genauestens trifft. Diese seltsame Bewegung, die scheinbar zielgerichtet ist, aber so leicht beeinflussbar ist und anfällig dafür, durch leiseste Luftzüge ihre Richtung des eingeschlagenen Weges einzubüßen, und sei es zur um Nuancen ... einen Schritt des Ausweichens, einer alternativen Route, einer sympathischeren Bodenoberfläche wegen.

Die Frage lautet: Wie bewegen sich Leopold Bloom 1904 in Ulysses durch Dublin, Franz Biberkopf 1927 durch Berlin oder Quinn-alias-Wilson-oder-Work-oder-vielleicht-alias-Auster durch New York ca. 1985? Ulysses, Odysseus - die Odyssee - eine Irrfahrt ... eine weitere Assoziationskette ist im Gang mit dem Ziel, dieser sprachlichen Nuance auf die Spur zu kommen, die das passive Sich-treiben-lassen mit dem eher aktiven Herumstromern wirklich abbildet oder besser noch die seelischen Vorgänge beschreibt, die zu einem ... Mäandern (?) durch die Großstadt führen, diese in den Blick nimmt. Ist es driften? 

Meine Gedanken dazu verflüchtigen oder verirren sich; die Anfänge der Überlegungen passen nicht mit den vielen losen Enden zusammen, die mittlerweile in einem unüberschaubaren Wirrwarr aus allen Richtungen in meinem Denken Lockköder auslegen ... jeder Gedanke läuft am Ende ins Uferlose.

Es bleibt mir also nichts anders übrig, als der Reihe nach ein, zwei Gedanken für sich in ein Ideen-Mobile zu hängen, in der Hoffnung, dass sich eine Balance einstellt.

Gedanke eins: Ich habe ein Foto vom Potsdamer Platz gemacht und war am Ende erstaunt zu erfahren, dass auf diesem Foto die erste Ampel in Deutschland abgebildet ist. Vor der Ampel sitzen Jugendliche, die Ästhetik des Fotos ist gewaltig, die Aufnahme aus einem Bus lässt die Veröffentlichung nicht zu, da die Panoramafreiheit nicht gerechtfertigt ist.

Gedanke zwei: Es war nur die erste Ampel in Deutschland, die erste Ampel wurde 1868 in London in Betrieb genommen und ist aufgrund eines Defektes des Gasbetriebes nach einiger Zeit eines Nachts explodiert. Die Ampel stand in der Nähe der Houses of Parliament ...

Aufgeschnappter Gedanke drei: Es gibt eine deutsche Produktnorm für vertikale Verkehrszeichen und eine juristische Bewertung des Problemfalls für feindliches Grün ...

Gedanke vier: Wie im Eintrag oben zu lesen, gibt es in Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" keine Ampel, aber einen zu einer Sache mutierten Verkehrspolizisten.

Gedanke fünf: In mehreren europäischen Städten werden Ampelmännchen zu Ikonen und Werbeträgern umgestaltet, Marx in Trier, Elvis in Friedberg. Auf einer Fassade hinter dem Elvis-Ampelmännchen steht das Wort: Schillerlinde - die Fassade ist zu sonnig-rustikal, um hier Einzug zu halten, der Weg nach Friedberg war umsonst.

Gedanke sechs: Ich frage mich, ob es einen Verlust der Richtungslosigkeit geben kann ...

Gedanke sieben: Nach dem Satz: "Ohne besonderen Grund ging er nach links und folgte dem zweiten Stillman" in Paul Austers Roman Stadt aus Glas kommt auf der Folgeseite eine Ampel zur Erwähnung: "Aber bevor er in Panik geraten konnte, blieb Stillman an der Ecke der 99th Street stehen, wartete, bis das Licht von Rot zu Grün wechselte, und ging auf die andere Seite des Broadways hinüber."

Gedanke acht: Der Designer des ostdeutschen Ampelmännchens Karl Reblau wurde in dem Jahr geboren, als Franz Biberkopf durch Berlin irrte, seinen Entwurf reichte er im Jahr des Mauerbaus ein, nachdem dieser eine Erfindung für die Westberliner S-Bahn zunichte machte oder so.

Gedanke neun: In einem Reim der DDR Verkehrskompass-Sendung heißen die kleinen Zeichentrickhelden Stiefelchen und Kompasskalle. 

Gedanke zehn: Vor einem Uni-Gebäude in Frankfurt steht ein verwaister E-Scooter, der Eingang in das Gebäude wird mit dicken Metalllettern als Zugang "Normativer Ordnungen" klassifiziert.

Zehn ist immer eine gute Zahl, um eine Grenze zu ziehen. Deshalb erfolgt an dieser Stelle kein Hinweis auf Nahrungsmittelampeln oder einen Gedankensplitter, ob die Farbkombination Rot-Orange ein vergleichbares Potential hat, Glückshormone freizusetzen wie Ampelgrün.

Ottmar Hörl hat in den achtziger Jahren Kameras mit schnellen Selbst- und Mehrfachauslösern ausgestattet und sie von Hochhäusern, aus Flugzeugen oder angebracht an Hammern von Hammerwerfern in die Diagonale geworfen. Der unbeeinflusste, auf Zelluloid gebannte Blick auf die Umgebung führte zu einer ungezügelten Eigenästhetik. Ein Gießener Künstler hat mich auf diese Konzeptkunst Hörls hingewiesen und auf den Stellenwert Hörls, den dieser mittlerweile durch seine Skulpturen erlangt hat. Eines der vielen in die dritte Gestaltungsdimension überführten Ikonen unseres Bildgedächtnisses trägt die Gravierung: "Grenzen überwinden." Mein herzlicher Dank gilt Frau Anne Henrich, die mit ihren freundlichen Worten der Veröffentlichung des Fotos unten zugestimmt hat und schließlich meiner gedanklichen Irrfahrt der letzten Tage ein Signalfeuer gesetzt hat.

(c) Stefan Scheffler

Ottmar Hörl, Skulptureninstallation "Einheitsmännchen - Grenzen überwinden", 2015, www.ottmar-hoerl.de

Schnipsel 158: Ohne Worte: Normative Ordnungen

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 159: Portable Property

(c) Stefan Scheffler

Eines Tages fällt dir auf,

Dass du 99% nicht brauchst.

Du nimmst all den Ballast

Und schmeißt ihn weg,

Denn es reist sich besser

Mit leichtem Gepäck ...

 

... singen Silbermond und treffen einen Nerv der Zeit des Weniger-macht-glücklich. Die große Sehnsucht eines weißen Raumes mit ohne Möbeln, den Blick in unverstellte Landschaft. Fluchtreflexe weg von den Übersättigungen, Reizüberflutungen, Stapeln ungewollter Werbebroschüren und Einmalverpackungen, Wohlstandsverwahrlosungen, Wachstumsprognosen, aber auch Fluchtreflexe weg von den Schlingen auswerfenden, akkubetriebenen Geräten und deren Klick-mich-Kraken, Vertragslaufzeiten, Drittanbieterfallen, Servicenummern, Rundumsorglosversicherungspaketen, Investmentabsicherungen, Ich-akzeptiere-Ihre-Datenschutzrichtlinien, Abo-Angeboten, Bonuspunkten, Telefonhotlines mit Sprachassistenten ... "bitte sagen Sie ja oder drücken Sie die eins ... vielen Dank, rufen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal an." 2020 ist die Sehnsucht nach gesprengten Ketten möglicherweise ebenso digital als auch materiell begründet, zumindest in den Gefilden der Satten. Das Denken in kleinen Einheiten, kurzen Laufzeiten, schnellen Möglichkeiten des Steckerziehens wird zum Wunsch, dessen Potential als Kaufanreiz mittlerweile sich in der Klickmöglichkeit auf den Filteroberflächen der Vergleichsportale wiederfindet.

Das "Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn Sie Dr. Bob sagen hören ..." der Muppet-Show war noch vor einer (halben) Generation ein Satz, der den Fernsehjunkies eine Regenerationsphase von mindestens 7 Tagen als Zwangspause verordnete, damit Restbestände an Realitätseinfluss auf die Rezeptoren treffen konnten, sollten quietschbunte Stoffpuppen ein allzu großes Suchtpotential auslösen, ungezügelt weiterkonsumieren zu müssen. (Der Vergleich hinkt, da man auch in den 1970er und 80er ebenfalls wenigstens theoretisch auf einen Bildschirmkonsum von vier bis sechs Stunden kommen konnte, wenn man es darauf anlegte.

Diese Einleitung hat anscheinend eine gewisse Eigendynamik entwickelt, da es in diesem Eintrag eigentlich um den gefährlich-sympathischen Mr. Wemmick aus Charles Dickens "Great Expectations" gehen sollte. Ich werde nicht mehr alle Details aus meinem Lesegedächtnis abrufen können - da gab es eine Festung mit Zugbrücke, eine Kanone zum Signalfeuer und Schutz, die als Rückzugsort von Mr. Wemmick erschaffen wurde, als mächtiges Bollwerk, um sich nach Feierabend von der ruchlosen Wirklichkeit der Unterwelt abzuschotten, in der Mr. Wemmick als Notar und Anwalt zusammen mit Mr. Jaggers tagsüber sein Einkommen verdiente. Wemmick ist ein Profiteur der viktorianischen Verelendung bzw. der Kriminalisierung, die sich in den Schichten der ausgebeuteten Klassen notgedrungen breit macht. Clever spielt er das System wie Jaggers, der große Verwalter Pips Hintergrundvermögens durch den Convict Magwitch. Seine Philosophie ist ausgefeilt: Wenn etwas schieflaufen sollte, die größten Bollwerke versagen sollten, die Flucht nötig werden sollte, ... dann hat er vorgesorgt: Portable Property, kleine Einheiten eines mobilen Vermögens in Form von Ringen, Uhren, Steinen ... die man schnell zusammenraffen kann, wenn ein Rückgriff auf ein schnelles Einsatzkommando sinnvoll wird, um Bestechungen, Lösegelder, Neuanfänge aus der Portokasse zu bezahlen. Es sind, kleine Schätze, die er armen Schluckern, die sich in den Fängen der Justizmühlen befanden, abgeschwatzt hat. Auch eine Art des klugen, aber sehr abgebrühten Weniger, wie ich damals beim Lesen schon fand. Eine moderne Parallele nennt sich wohl Anlagendiversität zur Verlustabwehr oder so ähnlich.

"They're curiosities. And they're property. They may not be worth much, but, after all, they're property and portable. It don't signify to you with your brilliant look-out, but as to myself, my guiding-star always is, 'Get hold of portable property.'" Ich glaube, Wemmicks Bastion hieß Little Britain.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 160: Zweiterste Wörter im Abrogans … und Franz Hohlers "Päckchen"

Fotos: Links in der Nähe von Glencolumbkille, Donegal ((c) Stefan Scheffler) - Mitte: Abbildung aus der Gallus-Legende von 1452, Stiftsbibliothek St. Gallen, Codex 602 (auf Wikimedia Commons, public domain) - rechts: Franz Hohler für Flugblätter etc. gemeinfrei: www.franzhohler.ch/fotos.php

"Das Wichtigste im Leben ist - "

"Na?", rief der Schwamm von oben.

"- die Freude", schrieb die Kreide, und setzte noch ein Ausrufezeichen dahinter, und noch eins, und noch eins, und noch eins.

 

Die Homepage des Schweizer Autoren Franz Hohler ist sehr ungewöhnlich, die Fotos - es sind drei oder fünf, je nach Zählweise - selten, die Form wesentlich, immerhin bekommt man, wenn man sich durch die chronologisch vorgeschriebene Linkordnung klickt, eine ganz persönliche Nachricht, ausgewählte Kritiken und Rezensionen - Hohler entscheidet sich samt und sonders für die Veröffentlichung der Verrisse, da doch alle anderen Autoren an ähnlichen Stellen immer nur die besten Besprechungen platzierten - ein elftes Gebot und das knappe Kurzprosastück "Die Kreide", der das Zitat oben entnommen ist.

Die Freude scheint auch wesentlich im Anspruch an das Leben des jungen Haimo, dessen Biographie, dessen langen Weg nach Montecassino und dessen Erschaffung des Abrogans als Schreiber im Kloster in Regensburg Franz Hohler als zweiten Erzählstrang seines Romans "Das Päckchen" anlegt. Haimo ist nicht freiwillig im Kloster, die Küsse seiner Gefährtin Marie sind ihm wonniger als die des Abtes, der sein lateinisches Wörterbuch dem begabten jungen Skriptor in Auftrag gegeben hat. Der Roman Franz Hohlers liest sich gut. Die fiktive Entdeckung der Originalhandschrift als Päckchen bzw. die mittelalterliche Entstehungsgeschichte ist in beiden Erzählsträngen - die des Berner Bibliothekars des 21. Jahrhunderts und des Schreibers des 8. Jahrhunderts - lebendig und packend.

Der Beginn der zufälligen, fast absurden Telefon-Verbindung fand ich seltsamerweise eben in dem Buch, das ich vor Hohler gelesen hatte: Paul Austers "Stadt aus Glas", assoziativ fällt mir auch Daniel Kehlmanns Roman "Ruhm" ein. Dann ein zweites Motiv, das mir gerade über den Weg gelaufen war und Einzug in die Primzahlen oben gefunden hat: Wirkungsprinzipien, die in eine lange Zukunft greifen, der Kurzlebigkeit unserer dünnen Halbwerts- und Verfallszeiten etwas Beständigeres entgegenzustellen; Hohler lässt John Cages in Halberstadt aufgeführtes Werk anklingen ... as slow as possible. Der Satz: "Die Aufführung läuft gerade in Halberstadt" scheint mir an semantische Grenzen des Wortes "laufen" zu kommen, die Spieldauer ist auf knapp 640 Jahre angelegt. (Ich bin froh, dass ich an dieser Stelle bewusst das leicht angezählte Modewort "nachhaltig" vermeiden konnte.)

Der Skriptor Haimo ist in der Arbeit versunken, ein Teil seiner Gedanken werden wohl bei seiner Liebe sein, als der Abt ihm über die Schultern schaut und die schön gestaltete Initiale C entdeckt. 

 

"Ein schönes Ornamentum - und für welches Wort?"

Haimo erschrak. "Copulat", antwortete er.

"Und das heißt?"

Haimo errötete. "Verbindet, vermählt."

 

Daraufhin findet der Abt, dass die Majuskel einer Narrenkappe gleiche. Was für eine grandiose Stelle. Ich war so sicher, dass sich der Blick des nicht philologisch gebildeten Laien lohnend auf das zweite Wort des Abrogans richten sollte. Spätestens seit Shakespeares second-best bed bin ich ein großer Fan des Zweitbesten. Die Wörter, die dem abrogans - dhemodi ... folgen, werden bestimmt auf ihren klösterlichen, religiösen Bedeutungsgehalt hinreichend kommentiert worden sein. Ein geschickter Autor mit Gespür bräuchte wenig Kreativkraft, um in den dann folgenden Begriffen mit ihrem Potential zur Tragödie eine Geschichte zu entlocken. Sie ist in vielen Variationen im Gedankenflug angelegt, den diese Wörter freisetzen:

abba - faterlih - pater - fater - abnuere - ferlauchen - renuere - pauhnen - recusare ... Kafka hätte genug an ferlauchen oder recusare (abweisen / zurückweisen). Mit Hohlers Blick auf die dritte Initiale, die in seiner Erzählung dem fiktiven Schreiber Lebendigkeit und Seele einhaucht, wird die Messlatte höher gelegt. Früher hätte mir eine punktuelle Auseinandersetzung mit dem Althochdeutschen genügt für die Hausarbeit, für das Abhaken und den damit freien Weg, sich wieder mit Literatur in meinem eigentlichen Studium zu beschäftigen. In den Mittelhochdeutsch-Seminaren waren die Spezialisten für Althochdeutsch ähnlich akzentuiert wie die LK-Griechisch Leute zu Abi-Zeiten. Diese Experten-Liga führt zu anderen Lebens- und Schaffens-Entwürfen. Bewundernswert geben tatsächlich die dicken Bände althochdeutscher Wörterbücher über diesen philologischen Forschereifer Auskunft, diese Hingabe an ein Spezialgebiet ist sicherlich auf eine lange Wegstrecke angelegt, die Bände in der UB Marburg verraten, dass sie selten ausgeliehen werden. Wenn man Zeit hätte, wäre sicherlich ein Schatz zu entdecken. 

 

abrogans - dhemodi

baratrum - toalle (Hölle?)

copulat - kifokit (hier steckt das Wort Gefüge - gi-fuogit - verbinden - verfugen - kuppeln drin)

deiscens - inlukhendi

elegans - kikhoran (später stehen hier nach kisezzed 16 ;;;;;;;;;;;;;;;;) 

fastus - firuuizi (Fürwitz kann ich erkennen, Stolz und Hochmut finde ich)

glosa - kimahchitha

haut procul - edho ofana

kalendas - az erista

mauis - noh uuili

nazareus - nazareus

orsus - ufqueman

passim - samfto

quamobre - olthera  (lat.: warum)

rapidus - notnemo

sane - heillihho

 

Das T finde ich als grauen Teil, in dem die Handschrift Runen und lateinische Texte wiedergibt. Am Ende steht das althochdeutsche Vaterunser. Das ist sicherlich einen eigenen Text wert. Ich beneide Herrn Schneider um Seite 42 des ältesten deutschen Buches: Das männliche andreas steht kurz vor der Hölle, aber es steht dort. In den wenigen Stunden der letzten Tage, die mir diesen kurzen Exkurs ermöglichten, konnte ich erneut nicht in die notwenigen Tiefen des Stoffes vordringen. Es sind erneut nur Streifschüsse, keine Volltreffer. Oben in der mittelalterlichen Abbildung sitzen Gallus und Columban in einem Boot auf dem Bodensee. Zwei irische Wanderer, die Europa missionierten. Inspektor Columbos italienische Wurzeln werde ich ab jetzt mit anderen Augen sehen. Die Benediktinerregel, die ich in der Bibliothek sah, aber nicht betrachtete, werde ich das nächste Mal mit einem verständnisvolleren Blick würdigen. In Glencolumbkille war ich schon, ohne zu wissen, wo ich war. Wie so oft in den letzten 1.000 Jahren. Orsus, ein Unternehmen, eine quest.

 

P.S.: Sehr herzlich bedanke ich mich bei Franz Hohler für seine nette Würdigung dieses Beitrages und die Genehmigung, sein Foto oben zu verwenden. 

Die Abbildungen der Majuskeln (oben) und des F(V)aterunser (unten) folgen der gleichen Quelle wie in Schnipsel 153: https://www.e-codices.ch/en/list/one/csg/0911 (CC BY-NC 4.0), Bilder in neuem Zuschnitt und Kontrast.

Die Taste "Coppel" und die dazugehörige Orgel stehen in einem Kloster in Mittelhessen, Foto rechts: Siehe oben.