Schnipsel 131: Der Reiz der Sinne

(c) Stefan Scheffler

Als Harold Chasen Maude zum ersten Mal während einer Beerdigung wahrnimmt, spuckt sie die Kerne einer rot leuchtenden Wassermelone auf die Erde des Friedhofs. Die Sinnlichkeit dieses Bildes verweist auf ein Thema, das der vorsichtigen Annäherung bedarf. Das Cottage Maudes besitzt kein Schloss, die Welt der sinnlichen Erfahrung erwartet den Siebzehnjährigen. Ausgerechnet die Bilderrahmen sind leer, aber alle anderen Sinne werden zunächst stimuliert, dann überwältigt, nicht laut, aber subtil. Der Geruch der U-Bahn, der Geruch von Schnee wurde von Maude in einer Geruchsmaschine eingefangen. Kinder können sehr schnell nachvollziehen, dass man diese Momente eines ersten Wintertages tatsächlich über die Nase abspeichern und für die Zukunft abrufbar machen kann. Auch der zögernde Sohn einer im sterilen Wohlstands-Zeremoniell gefangenen Übermutter merkt ... ja, es riecht nach Schnee. Bereits in der Melonen-Friedhofszene ist Maude mit sich im Reinen - completely at ease. Eine haptische Erfahrung bietet eine Holzskulptur, die man sich besser im Film noch einmal genauer anschaut. Die alte Dame am Ende ihres Lebens initiiert den jungen Helden, der die Hinwendung zum Leben, seine Bejahung erst erreichen muss.

Der Anfang von Lew Tolstoys Roman Anna Karenina hat perspektivisch eine hohe literarische Lebenserwartung: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche ist unglücklich auf eigene Art." (Dieser Romananfang lässt sich wohl nur noch mit Jane Austens Beginn von Pride and Prejudice vergleichen: "It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife.")

In meiner Leseerinnerung haben aber aus 890 Seiten Tolstoy zwei Stellen überlebt, der Auftritt Konstantin Lewins auf der Eisbahn und sein Mähen einer Wiese mit einer Sense - er, der Herr, mit den Arbeitern seines Landguts, wenn ich mich recht entsinne. Nicht die Etikette, die Wortklauberei, sondern die Hingabe an die Bewegung lassen ihn aufleben, so dass er für seine Mitmenschen in seiner Leidenschaft wahrgenommen werden kann. Das Schärfen der Klinge übernimmt noch sein Arbeiter Tit. Zu ihm reiht er sich dann in die Reihe der mähenden Bauern ein, um erst linkisch und aus der Übung geraten daran zu zweifeln beginnt, ob er hier hingehört. Mit jedem Sensenschnitt gewinnt seine Bewegung an Geschmeidigkeit. Der Einklang der Handlung, das gemeinsame Arbeiten im Schweiße des Angesichts überwindet die Standesgrenzen, das Mähen der Wiese löst alle Nebengedanken auf beiden Seiten auf. 

 

Reihe auf Reihe wurde zurückgelegt, und man schnitt lange und kurze Reihen, mit gutem und schlechtem Gras ab. Lewin hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wußte schlechterdings nicht zu sagen, ob es jetzt früh oder spät sei. In seiner Thätigkeit begann jetzt eine Veränderung vor sich zu gehen, die ihm außerordentliches Vergnügen gewährte.

Mitten in der Arbeit überkamen ihn Minuten, in denen er vergaß, womit er beschäftigt war; es wurde ihm frei ums Herz und in diesen Augenblicken fielen seine Schwaden fast ebenso gleichmäßig und schön, wie bei Tit. Kaum aber hatte er sich wieder vergegenwärtigt, was er thue, und angefangen, recht gut arbeiten zu wollen, so erfuhr er an sich wieder die ganze Schwierigkeit der Arbeit, und seine Schwaden fielen schlecht.

Als er eine weitere Reihe beendet hatte, und wiederum umkehren wollte, blieb Tit stehen und raunte dem Alten, indem er zu ihm hintrat, leise etwas zu. Beide blickten nach der Sonne.

[…]

Lewin schaute im Kreise um sich; er erkannte den Ort nicht wieder, so hatte sich alles verändert. Die Wiese in ihrer weiten Ausdehnung war gemäht und glänzte jetzt von einem eigenartigen, neuen Schimmer in ihren schon duftenden Schwaden unter den abendlich schrägfallenden Strahlen der Sonne. Auch um das Gebüsch und am Flusse war gemäht, und dieser selbst, der vorher nicht sichtbar gewesen war, glänzte jetzt wie Stahl mit seinen Windungen; er sah das sich regende, sich erhebende Volk der Mäher, die steile Wand des noch nicht geschnittenen Grasbestandes der Wiese, die Habichte, die sich über der entblößten Fläche tummelten – und alles das war ihm neu.

 

Die Zufriedenheit im Arbeitsprozess wurde wohl einmal gemessen, sie schlägt nicht aus nach oben oder unten, sie stellt sich im Flow auf Level 0 ein. (Den Gedanken kenne ich von Karl Möller.) Die Darstellung der Kraft der Sinnlichkeit braucht keine Beben, Maximalausschläge des Pendels oder harten Kontraste. Es sind die kleinen Nuancen, feinen Übergänge, Graustufen, zu denen wir in der Wahrnehmung fähig sind, die uns schließlich fesseln. Je subtiler die Wahrnehmung und Darstellung in der Literatur ist, umso kraftvoller ist die Wirkung beim Leser. Der stumme Schrei der Helene Weigel in Brechts Theaterstück Mutter Courage. Das Schnobern mit großen Nüstern am Baby Grenouille, um festzustellen, dass seine teuflische Gefahr von seiner Geruchslosigkeit ausgeht. Audrey Hepburns Rolle als Blinde, die die Gefahr der Gegenwart der Mörder in ihrem Apartment spürt und ihnen mit der Zerstörung der Glühbirne ihren Vorteil des Sehens raubt. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube mich an ein Quietschen von Frau John mit dem Korken an einer Flasche zu erinnern in Gerhart Hauptmanns Sozialdrama Die Ratten. Eine Anekdote von Goethe kann ich ebenfalls nur noch aus der blassen Erinnerung wiedergeben, er habe über das zunehmende Pferdegetrappel vor seinem Fenster geraunt, man gehe lauten Zeiten entgegen … 

Bleibt noch der Geschmackssinn. Das Festbankett einer Kreuzfahrtunternehmung wurde geraubt und auf ein kleines Segelboot verfrachtet. Die Mahnung wurde ausgesprochen, nicht alles in sich hineinzustopfen, sondern auch an entbehrungsreichere Tage der Reise zu denken. Ratzfatz ist der Schmaus verdrückt, das kleine Schiffchen neigt sich bedenklich heckwärts, wo Obelix sitzt. Die Mahnung von Asterix wird vorwurfsvoll wiederholt, man habe keine Vorräte gelassen. Doch, in der Hand von Obelix prangt das alte Symbol, die Hoffnung auf ein Überleben im Geiste der Klugheit bzw. klugen Vorsorge. Der Apfel muss später scheibchenweise proportioniert werden. Das Land der Truthähne wird aber auf jeden Fall erreicht. Beim Essen muss manchmal das Cornucopia sinnliche Zurückhaltung zügeln, um ein Schwelgen zu ermöglichen. 

Schnipsel 132: Röslein

Fotos: (c) Stefan Scheffler

Die Fähre oben legt in Richtung Elba ab. Am Mittelmeer scheint die Entdeckung der Sinnlichkeit unkomplizierter, vielleicht, weil die Tradition der unbefangenen Darstellung in der Kunst tiefere Wurzeln hat. Pan, der Sohn von Hermes, ist umtriebig im Gebiet der Wollust. Sein Ruf kann panische Angst verbreiten, Panik macht sich unter denjenigen breit, die … , wenn ich es richtig nachgelesen habe, seinen Erholungsschlaf am Mittag stören. Bei den Römern heißt der Pan dann Faun.

Nach Goethes Italienreise verändern sich in Weimar Freundschaftskonstellationen. Es gibt eine Forschungsrichtung, die nachzuweisen versucht, dass Goethe in Italien zum ersten Mal die körperliche Liebe erfahren hat. Die platonische Beziehung zu Charlotte von Stein leidet, die Beziehung - wenn auch lange ohne Ehebrief - zu Christiane Vulpius bringt Kinder hervor. Tragischerweise stirbt Goethes einziges Kind, das keinen frühen Tod erleidet, später in Italien. Im Jahr nach seiner Rückkehr veröffentlicht Goethe das Gedicht Heideröslein. Der Anfang "Sah ein Knab ein Röslein stehn" konnte über Generationen nicht ohne die Vertonung durch Franz Schubert gedacht werden, es ist zum Volkslied geworden. Rammstein singt es auch.

Der Knabe, der ein Röslein bricht, und das Röslein, das den Knaben sticht, stehen wohl in der langen Tradition der Darstellung des Gerangels der Liebe in all ihren Facetten. Lustvoll, erfüllend, fruchtbar, aber auch tragisch, unerwidert oder konfliktbehaftet. Der Apfel war bereits in der ersten Überlieferung unserer Kultur immer in der Nähe, auch die Schlange. Die Liebe als Kern unseres Seins und Überlebens steht im Zentrum einer Schöpfung, die den Anspruch auf eine Zukunft erhebt. Somit muss sie im Zentrum der Darstellung des Menschen stehen. Johann Gottfried Herder wurde bereits in 92 mit dem Satz zitiert: "Unter den Trieben, die sich auf andre beziehen, ist der Geschlechtstrieb der mächtigste …". 

Eigentlich braucht man nun nicht mehr viel zu erklären, man muss nur noch suchen. In der Darstellung der Antike bleibt nichts unerwähnt. Für das Mittelalter könnte man an Geoffrey Chaucers Canterbury Tales denken, für die Derbheit eines Kusses am Fenster fällt mir höchstens in unserer Gegenwart Michel Houellebecq ein, die Lust seines Charakters Francois findet Erfüllung. Bei Houellebecq scheint allerdings die pornografische Darstellung der trunkenen Hingabe eher der Mahnung zu dienen. Die satte Dekadenz beinhaltet das Potential einer Gefahr der Käuflichkeit. Es ist nur eine Nuance, neben so vielen. Ein nie ungefährliches Fest der Sinnlichkeit. Romeo ist 16, Julia 14. Faust ist wohl über 70, Gretchen 14. Die Verjüngung Fausts musste in der Hexenküche erfolgen. Die Wahrheit über die Tragödie äußert Margarete am Brunnen: 

 

Doch – alles, was dazu mich trieb,

Gott! war so gut! ach, war so lieb!

 

Die Reaktionen auf den Altersunterschied zwischen Harold (17) und Maude (79) fallen meistens heftiger aus, als auf denjenigen zwischen Faust und Gretchen. Überlebenssichernde, erfolgversprechendere Konstellationen des Trieblebens verfestigen sich und werden kultiviert, schließlich gesellschaftlich normiert. Tabus greifen um sich, am nachhaltigsten dort, wo sie sich bereits im Seelenleben eingenistet haben. Siegmund Freud ist bei aller Kritik wohl zu verdanken, dass Verkrustungen aufbrechen. In den Texten der Literatur haben alle Dimensionen, Richtungen, Details der Liebe überlebt. Zu wichtig ist wohl die Bewahrung des Motors der Liebe an sich, um auf auch nur das kleinste Schräubchen zu verzichten. (Selbst die Schöne Neue Welt von Aldous Huxley bewahrt sich die unnötige Spielart der körperlichen Befruchtung in der Hinterhand, obwohl die Technik einer optimierten genetischen Reproduktion in dieser Zukunftsvision scheinbar unfehlbar ist. Ein Drittel der Frauen wird verschont, ein freemartin zu werden, sie sind die stille Absicherungsreserve, falls die Reproduktionstechnik versagen sollte.)

Wenn man einen Grundkurs im Küssen braucht, kann man in Paul Flemings Gedicht aus dem 17. Jahrhundert nachlesen. Das Gedicht endet mit den Versen:

 

Küsse nun ein jedermann,

Wie er weiß, will, soll und kann!

Ich nur und die Liebste wissen,

Wie wir uns recht sollen küssen.

 

In der englischsprachigen Literatur findet mit D.H. Lawrence die Sexualität Einzug in die neuere Gattung der Romane. Sons and Lovers benennt den Liebesakt, thematisiert zugleich eine ödipale Mutterbindung. Lawrence wird allerdings in erster Linie mit der Nennung des Werks Lady Chatterly's Lover verbunden, die Beschreibung der Sexualität wird noch deutlicher. Eine englische Lektorin an der Universität Canterbury ging von der These aus, dass mit dem Genre der Kriminalliteratur - zu nennen wären insbesondere die Pionierin Agatha Christie - the body sich in den Texten wiederfand. Es hat mich nicht so sehr überzeugt, aber vielleicht ist es so, dass über den Umweg der Leiche der Körper wieder präsenter zwischen und in den Zeilen geworden ist. D.H. Lawrence wurde zensiert, auch James Joyce. Der Monolog von Molly Bloom drückt die größte Lebensbejahung im yes aus. Einer der Sätze dieses Monologs sprengt mit über 4.000 Wörtern alle vorher in Lettern gesetzte Grenzen. Verziehen hat der Zensor Joyce aber nicht die Darstellung des Ehebruchs oder der Masturbation.

The Fortunes and Misfortunes Of The Famous Moll Flanders kündet 1722 bereits im Titel an, dass es sich um die Darstellung des Lebens einer Frau geht, die zwölf Jahre eine Prostituierte war. Weltliteratur von Defoe wurde allerdings der Insulaner Robinson Crusoe. Shakespeare hat neben Romeo und Julia noch die Eifersucht Othellos aufs Papier gebannt. Lange versteckt wie der Brief KIeists an Ernst von Pfuel, in dem Kleist seine Liebe zum späteren preußischen General äußert, war der Roman von E.M. Forster Maurice. Andreas Steinhöfels Jugendroman Die Mitte der Welt darf sich offeneren Lebensbedingungen stellen. Orlando von Virginia Woolf spielt mit dem Thema, wenn sich in einem Charakter die Geschlechtergrenzen über die Dekaden an sich auflösten.  E.T.A. Hoffmann geht einen Schritt weiter, auch wenn er früher schrieb: Nathanael verliert sein Herz an die Automatin Olimpia, ein Motiv, das in der digitalen Welt Entsprechungen findet, wenn Sehnsüchte, die an Pixeloberflächen gerichtet werden, scheinbar weniger Gefahren bergen, analogen Herzschmerz auszulösen. 

Im Reigen der Liebe gibt es die Was-Wäre-Wenn-Paare: Was wäre, wenn Fontanes Botho aus Irrungen, Wirrungen seine Lene genommen hätte und nicht das ewige Prusten Käthe - oder Tony Buddenbrook Morten Schwarzkopf und nicht Grünlich und später Permaneder. Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte mit Lewin und Kitty ausgeht, aber Darcy und Elisabeth aus Jane Austens Pride and Prejudice finden sich, Jane Eyre und Rochester ebenfalls, Marge und Homer Simpson … und nun müsste die Reihe derer stehen, für die das gleiche gilt … in aller Unterschiedlichkeit oder kluger Überwindung hemmender Konventionen.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 133: Das Zypern-Experiment

Fotos: Reagenzien, Zypern, Aldous Huxley von Henri Manuel (auf Wikimedia Commons, public domain).

Der große Dialog zwischen Mustapha Mond und dem Savage kann nicht genug Würdigung erfahren. "Why don't you make everybody an Alpha Double Plus while you're about it?", fragt Mr. Savage in dem bereits in Schnipsel 35 thematisierten Roman Brave New World. "Because we have no wish to have our throats cut," he answered. "We believe in happiness and stability. A society of Alphas couldn't fail to be unstable and miserable." Also eine Welt exklusiv von und für die intellektuelle Elite wäre laut des mächtigen world controller Mond zum Scheitern verurteilt. Bissig ist Huxleys versteckter Spott, auf Zypern habe der Weltstaat ein Experiment durchgeführt. Nachdem die Insel von allen Zyprioten "befreit" worden war, seien 22.000 entkorkte Alphas dort angesiedelt worden. Man habe ihnen alles erdenkliche Equipment, das zur Neu-Kolonialisierung nötig und sinnvoll gewesen sei, mitgegeben. Das Drama habe aber nicht lange auf sich warten lassen, der Streit der klugen Köpfe sei nach nur 6 Jahren in einen Bürgerkrieg gemündet, der am Ende von den 22.000 nur 3.000 Überlebende übriggelassen habe. Eine optimale Bevölkerungsverteilung nehme sich die Eisberg-Pyramide zum Vorbild, es reiche, wenn ein Neuntel über der Wasserlinie sei. Das Zypern-Experiment habe nur bestätigt, was bereits klug vorausgesagt worden war.

Ich denke, viele meiner Kolleginnen und Kollegen würden mir zustimmen, dass tatsächlich eine Welt, die man ausschließlich aus einer Lehrerzimmerbevölkerung zusammensetzte, nur bedingt überlebensfähig wäre, außer es handelte sich um das Kollegium meiner Schule, natürlich! Ich müsste allerdings noch einmal klären, ob Lehrer überhaupt zu den Alphas zu zählen sind, sonst hinkt der Vergleich von vorne herein.

Der Konflikt zwischen Nord- und Süd-Zypern ist auf dem Weg der Versöhnung. Von Costas K. aus Nikosia, meinem netten Studienfreund aus Canterbury, habe ich gelernt, dass Zypern als einziges Land den Umriss seiner Grenze auf der Staatsflagge trage. Ich gab damals schon zu bedenken, dass es auch eines von den wenigen Ländern sei, bei denen das größentechnisch gehe.

Schnipsel 134: Das Zwischengeschoss in Lübeck

(c) Stefan Scheffler

"Wie aufrichtig betrübt war ich, mein Fräulein, Sie zu verfehlen!" Das ist so ein Satz von Herrn Grünlich, den Tony Buddenbrook im wohligen Garten des Hauses in der Lübecker Mengstraße empfängt und später trotz ihrer großen Abneigung aus wirtschaftlicher Familien-Raison als Ehegatten akzeptiert. Mehrfach fand der Roman von Thomas Mann bereits Erwähnung. Encore. Die schicke Fassade des Hauses in der Mengstraße steht wieder, hinter ihr befindet sich ein lebendiges Museum. Thomas Mann bekam für seinen Debut-Roman Buddenbrooks 1929, 28 Jahre nach seiner Entstehung, den Nobelpreis für Literatur, da war sein Zauberberg schon geschrieben. Es ist dieser erste Roman, der Thomas Mann mit Lübeck trotz aller weiteren Lebensstationen wohl enger verbindet, als selten ein Schriftsteller mit einer Stadt, vielleicht auch der Landschaft in Richtung Ostsee, verbunden wurde oder sich verbunden hat - Theodor Storms Gedicht über die graue Stadt am Meer fällt mir ein, die andere norddeutsche Küste und Husum, der Vergleich lässt sich aber kaum aufrecht erhalten.

Der Personenschlüssel, welcher Charakter aus den Buddenbrooks sich zu wem in der Familie Mann oder der Gesellschaft Lübecks zuordnen lässt, hat mich wenig interessiert. Die alten Fotografien bleiben blass gegenüber den Bildern, die sich aus dem Lesen selbst bei mir etabliert haben. Selten sind Romanfiguren so stabil in meiner Vorstellung geblieben wie Thomas und Christian Buddenbrook, Tony Buddenbrook, Morten Schwarzkopf oder eben Bendix Grünlich. Der Autor lässt ihnen auch reichlich Raum zur Entfaltung … auch die Zimmer im Hause der Kaufmannsfamilie waren mir von der Abmessung oder Einrichtung klar. Die "Butterbrote", zu denen man am Anfang des Romans geladen hatte, werden im Speisesaal serviert. Die Familie im Landschaftszimmer, Tony auf dem Schoß des Großvaters, das Büro von Thomas, in das Tony hineinlugt, um gute Nacht zu wünschen, das Unwetter an den Fensterscheiben, das die fatale Missernte andeutet, die Konsulin mit der Gardine in der Hand und den Augen auf dem sanft revoltierenden Volk, die Haustür, durch die der alte Konsul tritt, um auf Plattdeutsch die Arbeiter zu besänftigen, der Garten auf der Rückseite des Hauses, all dies sind Leseräume, die mir vertraut wurden.

Nie ganz vertraut wurde mir das seltsame Zwischengeschoss. Im Buddenbrookhaus-Museum in Lübeck steht nun glücklicherweise ein Modell des alten Mann-Hauses, das einem dieses kleine architektonische Rätsel klarmacht - bzw. mir verdeutlichte. Enttäuscht war ich allerdings, dass sich dort, wo der kleine Garten war, mittlerweile ein Parkplatz befindet. Es gibt ein erstaunliches Foto von Hans Kripgans, das Thomas und Katja Mann vor der Ruine, der halben Fassade mit den leeren Fenstern dieses Hauses zeigt. Von dieser Narbe hat sich die Mengstraße an der Fassadenseite erholt. Tony hätte Morten nehmen sollen.

Fotos v.l.n.r.: Ein Screenshot aus Google-Maps (c); Katja und Thomas Mann nicht in Lübeck, aber in Berlin unterwegs: Bundesarchiv Bild 183-H27031, Berlin, Thomas Mann mit Gattin (CC BY-SA 3.0 DE); Mengstraße, Lübeck (c) Stefan Scheffler.

Schnipsel 135: Salman Rushdie

Vielleicht ist es das Pendant zur Versöhnung, die im Text zu Zypern angesprochen wurde. Salman Rushdie hat 2017 das Vorwort für Beowulf Sheehans Bildband Author geschrieben. Er lobt Sheehans Bilder, seine Art zu arbeiten. Ich bin stolzer Besitzer eines atemberaubenden Bandes mit Versandadresse New York. Hier scheint auch Salman Rushdie zu leben. Im Bücherregal fand sich eine Ausgabe aus dem Jahr 1991: Harun und das Meer der Geschichten. Ziemlich in der Mitte wird ein Kampf gegen einen Schatten geschildert, gegen diesen Schatten hat man kaum eine Chance:

Der Schatten besaß ganz eindeutig einen eigenen Willen. Er duckte, drehte und streckte sich, bis er so lang war wie ein Schatten, der von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne geworfen wird, um sich gleich darauf so eng zusammenzuziehen wie ein Schatten um zwölf Uhr mittags … Wie soll man einen solchen Gegner jemals besiegen können?

Der Roman schildert das Versiegen einer erzählenden Stimme und den Kampf des Sohnes, damit seine Welt wieder so reich wird, wie zu der Zeit, als der Vater noch nicht verstummt war. Das 1988 veröffentlichte Buch von Salman Rushdie Die Satanischen Verse provozierte, dass auf den Autor ein staatliches Kopfgeld von einer Million Dollar ausgesetzt wurde. Man sieht Salman Rushdie heute manchmal in Fernsehauftritten, 2017 erschien sein neuester Roman The Golden House. Ich war mir sicher, dass sich der Bann auf Rushdie gelockert haben müsste.

2016 ist laut Wikipedia das Kopfgeld zum letzten Mal erhöht worden, es liegt mittlerweile bei ca. 4 Millionen Dollar. Ich möchte das nicht glauben.

Nachtrag Herbst 2019: Im November sehe ich Salman Rushdie auf einer Lesung in Hamburg. Er weist darauf hin, dass er mittlerweile ohne Bedrohung lebe, auch wenn die fatwa nie offiziell zurückgenommen worden sei. (Vgl. Schnipsel 164)

Fotos v.l.n.r.: Salman Rushdie von Heike Huslage-KochSalman Rushdie auf der Frankfurter Buchmesse 2017 (CC BY-SA 4.0); Salman Rushdie mit Paul Auster 2007 von David Shankbone from USA: Paul Auster and Salman Rushdie by David Shankbone (2886105900) (CC BY 2.0).

Schnipsel 136: Stolpern

Im Augenwinkel habe ich etwas wahrgenommen, als ich bei meiner Bildersuche das Stichwort Mengstraße eingab. Am Ende habe ich dann für den Text 134 eigene Bilder benutzt, und der Moment des Stockens, des gestörten Fokussierens wäre vergangen, ohne jemals Erwähnung gefunden zu haben. Es sind die Lichtstrahlen, die nicht durch den Brennpunkt gehen, die abwegigen, leicht zu übersehenden, diejenigen, die über den Augenwinkel wahrgenommen werden wollen, wenn der Blick schweift, oder gar nach unten gerichtet ist, die Gunter Demnig nutzt. Mehr noch ist es das kaum um einen Millimeter erhöhte, vielleicht nur an der veränderten Reibung der Sohle festzumachende Neue, das der Künstler dem schleichenden Vergessen entgegenstellt, wenn er der Sinneswahrnehmung des vertrauten Hinwegschreitens einen kleinen Impuls zum Einhalt entgegensetzt. Wenn Gunter Demnig seine Messingsteine in die Trottoir-Oberfläche einarbeitet, ist von ihm selber kaum etwas präsent. Diese Rücknahme der Person ist vielleicht umso kraftvoller für die Botschaft. Jeder auf unseren Straßen kennt mittlerweile die Steine, wenige nur den Urheber dieses Projekts, das der Mahnung sehr lange Dauer verleihen wird. Es sind mittlerweile über 60.000 Steine: http://www.stolpersteine.eu/start/

Das Foto in der Mitte ist von Jean Pierre Hintze from Travemuende, Luebeck, Germany, Germany/ France: Stolperstein fam mecklenburg luebeck 1396705905 (CC BY-SA 2.0); links und rechts sind Fotos einer Verlegung in Staufenberg, Hessen, aufgenommen von Jean-Pierre Letourneur (c).

Schnipsel 137: Rosebud

Erde und Mars; Orson Welles; Marsbesuch (auf Wikimedia Commons, public domain).

Die vielen Zettel mit hingeworfenen Notizen, einzelnen Gedankenfetzen sind mittlerweile auf einen überschaubaren Rest geschrumpft. Sehr früh stand an einem Rand das Wort Rosebud. Nur eine blasse Erinnerung an einen Film, dessen Ende mich einmal sehr beeindruckte, und die ich nirgends richtig zuordnen konnte. Ich wusste, dass Rosebud der Schlitten des fiktiven Großindustriellen Citizen Kane aus Orson Welles gleichnamigen Film war. Ein sehr alter, langer Schwarzweiß-Film, der die Erfolgsstory eines Mächtigen nachzeichnet. Das Wort Rosebud war mir allerdings mehr noch durch einen alten Columbo-Krimi in Erinnerung geblieben. Hier war es das Schlüsselwort, mit dem ein Mörder seine Hundebestien zum Töten abgerichtet hatte. Ein Anruf, eine Frage nach dem Namen des Schlittens, die Antwort und die Dobermänner reißen das verblüffte Opfer in Stücke - Eichendorffs mittlerweile fast inflationär gebrauchter Vers "triffst du nur das Zauberwort" gewinnt eine makabre Nuance, das Rosenblatt wird zum Ausdruck mörderischer Destruktivität.

Mir war noch nicht klar, warum ich das Wort notiert und immer weiter durch diese Schnipsel getragen habe. Die Bilder der Marssonde, die Töne, die sie von diesem Planeten sendet, führten auf die Spur, dass es mir vielleicht um den umtriebigen, genial-mutigen Orson Welles selbst gegangen sein könnte. Die Massenpanik, die seine Hörspielumsetzung von H.G. Wells' Krieg der Welten 1938 in den USA ausgelöst hatte, ist bis heute ein Schulbuchthema - beeindruckend, aber noch immer nicht die Lösung, für das, was mir im Ohr klingelte, auf der Seele steppte, gegen meine Augenlider von innen klopfte. Fred Vargas lässt in ihrem neuen Krimi ihren Kommissar Adamsberg entdecken, was Protogedanken sind … das ist aber ein anderes Unterfangen. Der Angriff der Marsianer war also auch abgeschmettert. Meine letzte Vermutung war, dass vielleicht wieder ein Apfel sein Unwesen trieb, einen Pfeilschuss provozierte oder apple als Lösungswort ins Kryptex eingegeben werden muss. Doch weder Schiller noch Dan Brown konnte ich mit dem Blatt des Röschens in Kontakt bringen.

Gestern fiel Schnee. Wenn man Kinder im ersten Schnee des Winters sieht, weiß man, wie hoch der Preis ist, den man für das Erwachsenwerden zahlt. In Peter Pan soll etwas von der ungezügelten Phantasie überleben, das Ende der Kindheit wurde so oft versucht, als verloren gegangenen Schatz zu betrauern. Wenn man nach langer Zeit der ersten Abwesenheit aus seinem Elternhaus zurückkehrt, fühlt sich der Türknauf seltsam fremd an. Eine Vertrautheit ging verloren. In Erich Kästners Romananfang "Emil und die Detektive" erhält Emil den Nachnamen Tischbein, weil Kästner seinen Erzähler zur Inspiration auf den Boden unter den Tisch schickt, dort in die Welt der Tisch- und Stuhlbeine, die hintersten Ecken unter dem Sofa, die wir alle als Erinnerung in uns tragen. Rosebud ist mehr, die Tragödie in Orson Welles Filmklassiker ist noch einmal um einen Verlust und eine Nuance tragischer und nicht mit Geld zu kompensieren; im Film landet der Schlitten auf dem Haufen der wertlosen Dinge, die verbrannt werden. Der Film von Orson Welles hat ihn und mehr vor dem Vergessen gerettet.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 138: Des Gedanken Prototyp

Ein sich rückkoppelndes System zu beschreiben, ist recht schwer, gerade wenn die Fähigkeit zur Rückkopplung Unendlichkeit verleiht, das System aber trotzdem an Grenzen stößt … doch von vorne:

Eigentlich rüttelte das Nachdenken von Jean-Baptiste Adamsberg (dem Kommissar aus den Krimis von Fred Vargas) an einer verschütteten Erinnerung an ein Lyrikseminar bei Professor Glück, der viele Anekdoten in uns gesät, aber auch unseren Blick geschärft hat für methodische Klarheit und Folgerichtigkeit, die immer von den Realien auszugehen habe. Adamsberg nähert sich seinen Erkenntnissen erneut umständlich und langsam, sie sind aufsteigende Kohlensäureperlen im Glas oder - wie er erfährt - Protogedanken, deren Konkretheit sich noch nicht greifen lässt. Ich kannte das Motiv, dem Alfons Glück so viel Bewunderung entgegenbrachte, ein Gedanke, der zunächst im Trüben bleibt, dann aber leuchtet, wie ein Goldfisch, der an einem Glas oder an einer Oberfläche sichtbar wird. Ich hatte mir immer den Kopf des Denkenden vorgestellt, der Gedanke bzw. Goldfisch war kurz durch die Pupille sichtbar, wenn er durchs Auge schwamm und ich meinte, Schiller sei der Urheber des Gedankens. Ich machte mich auf eine angestrengte Suche, traf aber auf Schiller nur als den Begleiter von Goethe, der den Fisch/Gedankenvergleich tatsächlich äußerte, allerdings um seine wenig vorhandene Begeisterung auszudrücken, wie ein Haschisch-Konsum auf seine Wahrnehmung Einfluss genommen habe: Allerlei trübe Gedanken seien um ihn herumgeschwirrt "wie kalte Goldfische in einem Glase, allein ich erhaschte keinen und blieb gelangweilt". (Dazu gibt es einen Artikel bei www.zeit.de.

Die Assoziation lenkte mich auf einen Pfad, einen neuen Gedanken, den ich bereits zuvor in 89 angerissen hatte. Sehr fasziniert bin ich bis heute von der Äußerung "Mir liegt es auf der Zunge." Da gibt es also Gedanken, die vorhanden sind, gefühlt, aber jenseits der Versprachlichung. Die Grenzen der Sprache, eine andere Idee, die ich einmal aufgeschnappt hatte: Die Sprache reicht nicht aus, um in den Gedanken eines Menschen, der nie sehen konnte, die Farben herzustellen, was sich sicherlich auch auf andere Reize übertragen lässt und bestimmt kaum verwundertet, wenn man einen zweiten Gedanken auf das Problem verschwendet. Mein Chemielehrer ging davon aus, dass wir alle andere Farben sähen und uns schwer wundern würden, wenn wir tatsächlich in die Gedanken- und innere Bilderwelt eines Mitmenschen einsteigen könnten. Die Assoziationskette ging weiter, es gibt eine Umkehrung, der Gedanke, der sich von außen langsam anbahnt, bevor er einen in seiner Konkretheit erreicht, eventuell gar überrumpelt. Einen leichten Abglanz davon findet man vielleicht in Formulierungen wie "Es liegt was in der Luft" oder "Ich werde mal hintenrum horchen, was vorneherum los ist." Immer weiter driftete mein Denken ab, landete in einer alten Seminarkopie von Erich Auerbach "Die Narbe des Odysseus" aus seinem Buch "Mimesis - Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur", ... hierin die Unterstreichung: "Der alte Mensch […] ist stärker einprägsam, stärker eigentümlich als der junge; denn nur im Laufe eines schicksalsreichen Lebens differenzieren sich die Menschen zu voller Eigentlichkeit". Beeindruckend, alleine die Idee der Mimesis, der Nachahmung, der Mimik, Imagination … eine Fülle.

Über den Namen Auerbach und Marburg kommt man auf einen anderen Namen Leo Spitzer, die Entwicklung der philologischen Seminare dort in der alten Universitätsstadt, eine Verbindung nach Istanbul … eine Lawine, dann ein völlig neuer Strohhalm. Vielleicht, weil sich das Wort recurrence (es geht um die Wiederkehr eines Motivs) in einem Artikel zu Leo Spitzer fand und mich dieses Wort auf recursion / recursive brachte - jene Rekursionsfähigkeit der Sprache, die sie mit dem Potential der Unendlichkeit ausstattet. (Das kann Caroline Heycock von der Universität Edinburgh hier viel besser erklären: https://www.youtube.com/watch?v=mO4WQB1BIq0.) Jene Rekursion wie in einer russischen Puppe angelegt, in der wieder eine Puppe steckt, oder das Spiegelbild im Spiegelbild usf., die Ketten von dass-Sätzen oder Relativsätzen oder anderen Teilsätzen sich aneinanderreihen lässt bis an den letzten Tellerrand. Mittlerweile glaubte ich nicht mehr, dass ich diese Fäden noch einmal zusammenbekommen würde, zumal ich mich nicht der Bewertung des Streits gewachsen sah, die sich mit dem Thema nach vorne drängt, jener Streit zwischen Daniel Everett und Noam Chomsky. Noam Chomsky, der die Idee einer Universalgrammatik postulierte und als einen Beweis die universale Rekursion als Merkmal aller Sprachen der Welt anführte, bis Everett diesen Beweis in Frage stellte, da er das Fehlen der Rekursion in der Sprache des Amazonasstammes der Piraha nachwies. Auch das scheint bereits wieder in einem Zweifel zu stehen. Ein Hoffnungsschimmer steckte im Wohlklang des Wortes Droste-Effekt, dieser hat aber einen anderen Bezugspunkt als in Richtung Meersburg, wie ich eigentlich erhofft hatte.

Eine Windung wagte ich noch, diesmal nicht Leo, sondern Manfred Spitzer. Der Hirnforscher und Philosoph, dessen Buch über die "digitale Demenz" hohe Wellen geschlagen hat, hat auch ein Werk mit dem sympathischen Titel: "Nichtstun, Flirten, Küssen: und andere Leistungen des Gehirns" verfasst. Mit ihm würde ich nun wieder zurück in Ufernähe segeln, hoffte ich. Mir ging es ja um die Frage, wo meine Erinnerung an den verloren gegangen lyrischen Gedankenfisch geblieben war, und Spitzer ist der Meister, uns das Lernen und Erinnern zu erklären. Leider war ich nach dem Schauen des wunderbaren Vortages, den man unter dem Link https://www.youtube.com/watch?v=vujELzwcdpQ findet, zwar schlauer - ein wichtiges Tier, das ich hier nicht verraten darf, sonst ist der Effekt der Bilder unten weg, kam hinzu - mein Goldfisch schien allerdings den Weg in den Andreasgraben gefunden zu haben.

Heute Morgen las ich ein Gedicht vor, das ich vor Wochen wegen einer anderen Verszeile in einen Reader gesetzt hatte: Mörikes "An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang". Es war aus einem Glück-Seminar - mise en abyme - dann der Vers in der Mitte: 

 

Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken

Zur Pforte meines Herzens hergeladen,

Die glänzend sich in diesem Busen baden,

Goldfarb'gen Fischen gleich im Gartenteiche?

Das linke Foto war mal gemeinfrei auf Wikimedia Commons und birgt einen Aha-Effekt, der, einmal erlebt, unwiderrufliche Folgen hat, es ist nicht das Bild aus dem Vortrag von Manfred Spitzer - (c) Stefan Scheffler

Schnipsel 139: Winnetou & Shatterhand

Im Dialekt ist das Töpfchen und Deckelchen derber, hier geht es auch nicht um Paarfindungen, sondern Ideen oder Kniffe, die passgenau wie die Magdeburger Halbkugeln aufeinanderpassen, wie auf den Eimer. 

Wenn man diesen symbiotischen YinYangs einmal nachspürt, findet man ganz nette &s zum Beispiel zwischen Havanna und Madagaskar, Casablanca und Amsterdam oder Bonnie und Clyde. Manchmal sind sie im ungleichen Kampf und Sieg des Kleineren zusammengeschweißt wie bei David und Goliath, manchmal in der Ergänzung, die der Ungleichheit innewohnt wie bei Asterix und Obelix oder Laurel und Hardy. Der Kuss zwischen Gorbi und Honni ist nur scheinbar bindend und trennt am Ende gewaltlos, bei Sherlock und Dr. Watson kommt der eine aus der Gewalt Afghanistans und hilft die Bändigung der Gewalt der Superschurken zu dokumentieren. Homer und Marge, J.F. und Marylin, selten ist wohl die Initial-Begegnung trefflicher festgehalten worden als durch den laut Wikipedia "meistgelesenen" und "am häufigsten übersetzten" deutschen Schriftsteller Karl May. Mein Mitfiebern am Silbersee würde ich um keinen Preis im Nachhinein Verschweigen. Winnetou und Old Shatterhand treffen sich am Anfang der 1890er so:

Sein Gesicht war fast noch edler als das seines Vaters, seine Farbe war ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Er stand, wie ich jetzt erriet und später dann erfuhr, mit mir im gleichen Alter und machte gleich, als ich ihn zum ersten Male erblickte, einen tiefen Eindruck auf mich. Ich fühlte, daß er ein guter Mensch sein und eine außerordentliche Begabung besitzen müsse. Wir betrachteten einander mit einem langen, forschenden Blicke, und dann glaubte ich zu bemerken, daß in seinen ernsten, dunklen Augen, die einen sammetartigen Glanz besaßen, für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht wie ein Gruß aufglänzte. 

Bilder Reihe oben v.l.n.r.: Sherlock Holmes und Dr. Watson, David und Goliath, Winnetou und Old Shatterhand (auf Wikimedia Commons, public domain); Reihe unten v.l.n.r.: Asterix und Obelix von Ferran CornellàComic wall Asterix & Obelix, Goscinny and Uderzo. Bruxelles, neuer Zuschnitt und Kontrast (CC BY-SA 3.0); Honecker und Gorbatschow von Hiroki Ogawa: Leonid Brezniev Erich Honecker Der Kuss East Side Gallery Berliner Mauer Berlin Germany - panoramio (CC BY 3.0); Ernie und Bert von Tequask: Afghan-Bert and Ernie (CC BY-SA 4.0). 

Sehr schöne Bilder der Anfänge von Laurel und Hardy sind leider nur in den USA unter der public domain Lizenz zu veröffentlichen.

Schnipsel 140: Flaumenleichte Zeit

Dekadenz leitet sich von cadere ab, dem Niedergehen, deshalb hat die Dekadenz auch nichts mit der Zehnerzahl des Dezimalsystems oder Dekalogs zu tun, den berühmten zehn Worten. Mit diesem zehnten Eintrag dieser Reihe soll der Reigen der Sinnlichkeit die Horizontlinie verlassen. Shakespeare ist der Meister, den die Fülle der Welt nicht abschreckte: "There are more things in heaven and earth, than are dreamt of in your philosophy" lässt er Hamlet so ähnlich sagen. Mein zweiter Englischlehrer Herr Krumbiegel teilte mit uns seine Bewunderung für den Satz: "The coward dies a thousand deaths, the brave but one." Wenn Goethe mit seinem Gedicht Wanderers Nachtlied sich dem Tode nähert, reichen acht kurze Verse, um den Blick von oben über den Gipfeln hinab bis ins tiefste, nicht erwähnte, aber vorhandene Grab zu lenken:

 

Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

 

Das Hören darf den Auftakt bilden. Barry Eisler nutzt in seinen John Rain Krimis die asiatische Kampfkunst, um den Leser in ein haptisches Gerangel zu verstricken, das fesselnd und befreiend zugleich ist. Auch Ivo Pala gewinnt mit seiner Shadow Agents Reihe bei den Jugendlichen eine Lesefaszination, die ein Beherrschen der Körperkontrolle durch Kampf- und Parcours-Kunst inszeniert, die wenigstens beim Lesen die Sehnsucht der Überlegenheit stillt. Barry Eislers Romanheld Rain verliert sein Herz an eine Jazz Pianistin, für die die japanische Musikerin Junko Onishi Pate stand. Die Darstellung der Musik durch Eisler ist schon gut, die Stücke auf den CDs Live at the Village Vanguard sind atemberaubend. Damit sich aber der Klang ebenfalls zur Ruhe begeben kann, sei vielleicht doch auf Mendelssohns Lied aus Elias hingewiesen: "Sei stille dem Herrn."

Das Explodieren des Geruchssinns nach Erwähnung von Süskinds Grenouille kann nicht mehr übertroffen werden, genauso wenig wie die komplette Rücknahme dieses Sinneseindrucks durch die Geruchlosigkeit des Protagonisten, an dem vergeblich geschnobert wurde. Die sinnliche Feinheit des Reizes findet sich aber vielleicht noch einmal bei Goethe im Vers: "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn …"

Die Rücknahme des Sehimpulses findet eine makabre Variante in H.G. Wells Country of the Blind, an das ich kaum noch eine eigene Erinnerung habe, außer dass sich mir der Titel tief eingebrannt hat. Viel stärker ist mir das Fühlen eines Mannes in Erinnerung geblieben, der mit der Hand an den Fassaden ich glaube New Yorks vorbeistreicht, jeder Impuls über die Fingerspitzen wird zur Vergegenwärtigung, dass eine zehnjährige Umnachtung überwunden wurde. F. Scott Fitzgerald endet seine Kurzgeschichte The Lost Decade mit den Worten: "Jesus", he said to himself. "Drunk for ten years."

Das in 138 erwähnte Gedicht "An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang" von Eduard Mörike dreht die Bewegungsrichtung um. Nicht das Versinken, sondern das Tagen, die reine Zeit des Übergangs zum Morgen, das Erwachen blitzblanker Schaffensfreude wird gefeiert. Ein Fest, das die vom Mondlicht beschienenen Nachtmomente unerwähnt lassen kann, um umso reinleuchtender der unbefangenen Kreativität ihren Lauf zu lassen:

 

Einem Kristall gleicht meine Seele nun,

Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen;

Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn,

Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, 

Die aus dem klaren Gürteln blauer Luft

Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.

[…]

Dort, sieh! am Horizont lüpft sich der Vorhang schon!

 

21.12. Wintersonnenwende

(c) Stefan Scheffler