Schnipsel 121: Der Fink an der Kette

Ganz am Ende von Donna Tartts langem Roman Der Distelfink wird ein Geheimnis gelüftet, das Geheimnis der Botschaft, die das Gemälde Der Distelfink von Carel Fabritius für den Erzähler Theo Decker bereithält. Wie in Rilkes Panther geht von der im Bild eingefangenen Darstellung der Freiheitsberaubung eines Wildtieres eine enorme Sendungskraft aus. Über mehr als 1000 Seiten verfolgt der Leser nicht nur das im Fundament erschütterte Leben des New Yorker Kindes einer besessenen Kunstliebhaberin, die bei einem Attentat in einem Museum ihr Leben verliert. Theo kann unter traumatisierenden Umständen entkommen und nimmt ein kleines Kunstwerk an sich, das ihn über die Jahrzehnte stets streng versteckt begleitet. Eingeschnürt in dickes Paketband ist es; trotzdem fiebert man mit, dass dem Gemälde in seinen unterschiedlichen Unterschlüpfen nichts passiert, und so überträgt sich ein Besitzeifer, ein Nicht-Loslassen-Können von Theo Decker auf den Leser, das fiktive Schicksal des Gemäldes nimmt ihn gefangen, schlägt ihn in seinen Bann. Der Kniff von Tartt besteht darin, dass ihr ein Kunstwerk über den Weg gelaufen ist, das bereits ohne ihren Roman selbst mit einem enormen Rätsel, einem unglaublichen Schicksal versehen ist. Hier greift die Witterung der großen Schriftstellerin zu und webt am Stoff des mysteriösen Überlebens dieses kleinen Vogels weiter. Es überlebt die Zerstörung eines Lebenswerkes bzw. weniger pathetisch ausgedrückt die 1654 durch eine Explosion eines Pulverturmes ausgelöste Vernichtung des Großteils der Werke des niederländischen Malers Carel Fabritius. Im Dunstkreis der Darstellung dieser Tragödie finden sich immer wieder Hinweise auf die eigentliche Bedeutung dieses Malers, der einflussnehmend war auf Rembrandt. Der überlebte und damit klangvollere Name soll auf den Rang des zerstörten Schatzes rückwirken, um die Tragweite des Verlusts zu steigern. 

Warum erzähle ich hier davon? Der Weg Theo Deckers über die Geborgenheit der Werkstatt und Wohnung Hobies im Village, New York, seine Freundschaft zum angstfreien Underdog Boris, die Farben und Kontraste des Erlebens in der Wüste Las Vegas sind lesenswert. Die Entdeckung des Gemäldes von Fabritius, datiert mit dem Schicksalsjahr, das auch sein Todesjahr werden sollte, wird unverzichtbar, sobald es uns begegnet, da das Motiv der geketteten Kreatur so machtvoll wirkt. Den Weg nach Den Haag anzutreten, um sich das Bild anzugucken, und nur für dieses Bild die Reise anzutreten, das wird nur bewegt, wenn sich der Zauber des Kunstwerks auf einen überträgt, wie er sich auf Welty, Theo oder vielleicht auch auf den Bändiger von Tatters übertragen hat. Wenigstens war letzterer über Wochen in einem Rätsel gebannt, sodass Angriffe faschistoider Roboter lange nicht befürchtet werden mussten. (Der letzte Satz ist eine kryptische Botschaft und spielt auf die britische TV-Serie Dr. Who an.)

Der Herr in der Mitte ist nicht Fabritius, sondern Rembrandt. Seine Meisterklasse findet sich einen Raum neben Fabritius Distelfink z.B. mit dem großen Gemälde "Anatomiestunde". Dann hängt da noch Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring". Die Gelassenheit Den Haags, die Gelassenheit der "Langen Nacht der Museen" im Oktober 2018 setzt sich fort in der gelassenen Freundlichkeit des Museums Mauritshuis, das mir die Veröffentlichung der Innenaufnahmen und Aufnahmen der Kunstwerke genehmigte. Sehr herzlichen Dank an Anne Maartje Kruijswijk für die prompte Zusage (Fotos (c) Stefan Scheffler).

Schnipsel 122: Die Magdeburger Halbkugeln

Es sind naturwissenschaftliche Vakuum-Experimente, die zur Zeit der Katastrophe von Fabritius in Regensburg von Otto von Guericke durchgeführt werden. 1656 findet aber in Magdeburg eine Vorstellung statt, die den Weg in die Schulbücher geschafft hat. Zwei metallene Halbkugeln werden aneinandergefügt und an ihrer Naht abgedichtet. Diesem lockeren Verbund wird dann die Innenluft abgepumpt, sodass ein Vakuum entsteht. Ein Nichts innen, dass aber von außen einen dermaßen großen Druck erfährt, dass Guericke über ein Dutzend Pferde an jeder Seite einspannen kann, die es nicht schaffen, die Haftung der Halbkugeln zu trennen. Damals mag es der Beweis der Kraft des Luftdrucks oder des Vakuums gewesen sein, die eine kraftvolle Bildübersetzung fanden und beeindruckten. Bereits in Schnipsel 17 zur Dialektik habe ich das Bild der Magdeburger Halbkugeln erwähnt. In einer Zeit, in der von implodierenden Sonnen oder Paralleluniversen gesprochen wird und vor wenigen Tagen eine weitere Sonde mit dem Namen InSight auf dem Mars landet, mag die versagende Pferdekraft im Versuch der Trennung zweier Kupferschalen nicht mehr unbedingt ein ehrfürchtiges Raunen auslösen - mir geht es aber in meiner Schwärmerei für dieses Experiment um die Konstellation, die eine Passgenauigkeit erfordert, um dann eine Stabilität zu erreichen, die das Potential zur Tragödie in sich trägt, wenn die Haltbarkeit in eine ungesunde Starre mündet.

Franz Kafka findet diese Bindungen, die in eine Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Erstarrung oder Verkrustung führen. Ich habe die Parabel Vor dem Gesetz bereits erwähnt, in der der Mann vom Lande auf seinen Türhüter trifft, der ihm den Eintritt verwehrt. Dieses Verbot ist deshalb so mächtig, da im Mann vom Lande die Autoritätshörigkeit bereits angelegt ist, die für ein Verbot einer höheren Instanz, die sich selbst nur als Hürde eines untersten Ranges zu erkennen gibt, anfällig ist. In der Erzählung Die Verwandlung lassen ungesunde familiäre Loyalitätsbindungen das Leben Gregor Samsas zu Laubsägearbeiten verkümmern. Kafka lässt seine Charaktere in ihrem Wegducken nie davonkommen, das Schicksal rächt sich, wenn jemand sein Leben von einer inneren Leere bestimmen lässt. Einmal in der Erzählung "Entlarvung eines Bauernfängers" entrinnt ein Mensch, indem er sich mutig nicht einfangen lässt, der klebrige Festhalter wird abgewimmelt, der Abend kann beginnen: 

»Erkannt!« sagte ich und klopfte ihm noch leicht auf die Schulter. Dann eilte ich die Treppe hinauf und die so grundlos treuen Gesichter der Dienerschaft oben im Vorzimmer freuten mich wie eine schöne Überraschung. Ich sah sie alle der Reihe nach an, während man mir den Mantel abnahm und die Stiefel abstaubte. Aufatmend und langgestreckt betrat ich dann den Saal.

Ein seltener Moment im Werk des Autors, der sein Leben in den Tagebüchern mit den Worten kommentierte, sein Leben sei das Zögern vor der Geburt. Auf der Begreifensebene stellt uns die Dialektik eine Feuerleiter zur Verfügung, um uns über die Metaebene in Sicherheit zu bringen, wenn keine zehn Pferde ausreichen, die Macht der eigenen Gefangennahme zu überwinden, dann gibt es noch die schnellen Schwertzücker, die den Knoten zerschlagen … auch da ging es um eingespanntes Getier in einem Joch.

Nur der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass auch die Gebeine von Otto von Guericke einer traurigen Unrast anheimfielen.

Abbildung links: Otto von Guerickes Experiment von Gaspar Schott (auf Wikimedia Commons, public domain);

Foto rechts: Es sind die original Kupferkugeln im Deutschen Museum, München, aufgenommen von: LipoRello

Magedurger [sic!] Halbkugeln Luftpumpe Deutsches Museum (CC BY-SA 3.0).

Schnipsel 123: Das Wesen eingefangen - Beowulf Sheehan

Copyright: Beowulf Sheehan, thanks for the friendly permission to publish the cover on this website.

Selten war ich so von einem Moment überrascht. Für den Eintrag zu Donna Tartts The Goldfinch wollte ich ein Foto von Donna Tartt verwenden. Bilder von ihr sind selten; Bildrechte werden im Zeitalter visueller Inflation dann teuer, wenn sich das Motiv rar macht. In einem Anflug kommunikativen Wunschdenkens schrieb ich eine Mail an Beowulf Sheehan. Er ist der Fotograf, dessen Abbildung der Autorin autorisiert ist. Sein Foto bringt uns Donna Tartt weltweit auf dem Einband ihres Romans nahe. Ich wusste nicht, wie renommiert seine Portraits sind, wie lang die Liste der Persönlichkeiten, die sich seiner Linse anvertrauten, und ich erwartete keine Antwort. Vielen Dank für die prompte Antwort einen Tag nach meiner Anfrage: Das von mir angefragte Foto ist verlagsgebunden. Beowulf Sheehan stellt mir aber für diesen Blog das Cover seines aktuellen Fotobandes "Author" zu Verfügung. All das wäre noch nichts Besonders, wenn nicht die Bilder von Sheehan die Macht besäßen, das Wesen der Autoren auf Zelluloid zu bannen, oder eben in den Pixeln. Mehr auf der Website von Sheehan: http://www.beowulfsheehan.com/

Schnipsel 124: Ein universelles Schicksaldatum

Wenn man nach einem passenden Zitat zur Bescheidenheit sucht, wird man vielleicht erstaunt feststellen, dass es genauso viele Lobeshymnen auf den Gestus der genügsamen Haltung gibt wie spöttelnde Bonmots, die in der Bescheidenheit eher eine Heuchelei sehen. Ich nehme einfach das kürzeste Zitat von Lessing, dann weiß ich, dass ich die Kürze und am Ende die Klugheit auf meiner Seite habe. Gotthold Ephraim Lessing stellt fest: "Alle großen Männer sind bescheiden." (Im Buch Jesus Sirach, lange vor Christi Geburt verfasst, steht dazu sogar die Mahnung: "Je größer du bist, umso mehr bescheide dich.")

Wenn man nun mit Wünschelrute und Pendel auf die Suche nach einem bescheidenen Datum sucht, wird man weggelenkt vom 3. Dezember. Es ist schlicht und ergreifend der Tag, an dem Hermes abstürzte, und das auf seinem Jungfernflug als Handley Page Jet 1945. Das Schicksal wirft in die gegenüberliegende Waagschale wie zur Wiedergutmachung das Erreichen Jupiters 1973 durch die Sonde Pioneer.  Es ist nicht zu glauben, dass im Jahr von Joyces Bloomsday 1904 am dritten Dezember der sechste Jupitermond entdeckt wurde, wie zum Hohn, dass es der sechste Monat ist, in dem Joyce den 14. zum Event macht, das ich so schätze. 1991 wird am dritten des Weihnachtsmonats eine Supernova entdeck, deshalb lautet wohl der Text der ersten jemals gesendeten SMS am 3. Dezember 1992 "Merry Christmas". 1999, gleicher Tag kommt Mars ins Spiel und wird von einer NASA Sonde angeflogen. 

Vielleicht mag es Alice Schwarzer und Ozzy Osbourne egal sein, dass sie aufgrund ihres geteilten Geburtstagsdatums in diesem Eintrag friedlich nebeneinanderstehen, mir ist es aber fast unangenehm, dass ich hier auf den Grabstein von Joseph Conrad in Schnipsel 12 verweisen muss. Das hat er nicht verdient. Am 3. Dezember am Ende der Mitte der Hälfte des Jahrhunderts plus einer Dekade wurde nämlich eine Begeisterung für blecherne Gewaltbereite auf den Weg gebracht, die nur interstellar oder kosmisch erklärt werden kann, wenn überhaupt. Herr Schneider mag Daleks. Wie kann man dem Wer die Doktorwürde verleihen? Meine britische Neigung möge es der Insel verzeihen - die englische Erfolgsserie ist wohl so etwas wie ein perpetual motion. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon einmal Wikipedia ungefiltert zitiert habe, aber:  Dr. Why Not?

Daleks sind im höchsten Maße kriegerisch und stets auf Eroberung und Zerstörung bedacht. Sie sind rassistische Faschisten, die neben ihrer eigenen keine andere Rasse achten und auf ihre „Rassenreinheit“ fixiert sind. Dies geht so weit, dass sie sogar ihren eigenen „Schöpfer“ Davros töten, als er ihre höhere Stellung nicht anerkennt und er die weitere Produktion/Züchtung von Daleks verhindern will.

Herzlichen Glückwunsch Welt & Herr Schneider ...

Fotos v.l.n.r.: Eine Hermes Maschine von Ken Fielding: https://www.flickr.com/photos/kenfielding, G-ALDA HP Hermes 4 Air Links B-Hill 04MAY63 (6890683751 (CC BY-SA 3.0); ein Strom-Dalek von Rept0n1x: Dalek at Blackpool Illuminations - DSC07101 (CC BY-SA 3.0) und ein Foto von Shining.DarknessCollectormania London 09 (CC BY 2.0) ... shining darkness, na dann!

Schnipsel 125: Platons Höhle

Immer wenn es um den Menschen in seiner Gefangennahme durch seine Sinne geht, die ihm seine Erkenntnisgrenzen setzen, erinnert man sich an das tausende Jahre alte Höhlengleichnis Platons. Mein inneres Bild dieses Szenarios trage ich über einen langen Zeitraum in mir. Ich war sehr erstaunt, dass es ziemlich ähnlich einer Umsetzung in einem englischsprachigen Knetmännchenfilm ist: https://www.youtube.com/watch?v=XcfhDs9l6mQ. Was ich nach wenigen Monaten immer wieder vergesse, ist, wie das Gleichnis in Platons Gespräch zwischen Sokrates und - auch dies vergesse ich immer - Glaukon weitergeht. Der schwierige Weg aus der Höhle, das Blenden durch die Sonnenstrahlen, der noch schwierigere Weg zurück - der Schemel, der auch hier bereitsteht … Das Thema ist sehr groß, deshalb soll nur ein kleiner Hinweis auf eine Stelle in Jostein Gaarders Roman Sofies Welt genügen, er steht an einer Stelle, die sich nicht direkt auf das obige Gleichnis bezieht:

Vielleicht kannst Du den letzten Satz nicht so leicht schlucken, Sofie. Ich versuche es noch einmal: Sokrates hielt es für unmöglich, glücklich zu werden, wenn man gegen seine Überzeugung handelt. Und wer weiß, wie er zum glücklichen Menschen werden kann, wird auch versuchen, einer zu werden. Deshalb wird jemand, der weiß, was richtig ist, auch das Richtige tun. Denn kein Mensch möchte ja wohl unglücklich sein?

Hier müsste noch viel über Nonkonformismus stehen oder Sokrates und selbst das Schierlingskraut müsste mindestens zwiefache Erwähnung finden. Ein großes Thema. Selbst ein verlorenes Bild gibt es, die Vorlage des Kupferstichs unten geht laut Wikipedia auf ein Gemälde von Cornelis van Haarlem zurück, das verschollen ist.

Bild Reihe oben: "Die platonische Höhle" von Jan Saenredam (auf Wikimedia Commons, public domain); 

Fotos Reihe unten: Sokrates neben Platon (beide Wikimedia Commons, public domain); rechts Jostein Gaarder von Heike Huslage-KochJostein Gaarder Leipziger Buchmesse 2017 (CC BY-SA 4.0).

Schnipsel 126: Der Turm

Wenn Menschen versuchen, Grenzen zu überwinden, um sich in neue Höhen aufzuschwingen, werden sie seit ziemlich langer Zeit mit einem Turm gewarnt, der in der Lage war, Gehorsamkeit zu predigen und den Menschen das Auf-dem-Boden-bleiben nahezulegen. Schön, dass es ein anderer Turm geschafft hat. Es ist so Vieles möglich, selbst, dass man jedes Jahr an Silvester Geburtstag hat. (Manchmal muss ein Text kryptisch sein in der Ära nach der großen Sprachverwirrung …)

Fotos: Ein Projekt in Paris 1887-1889 (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 127: Langsamkeit

(Bilder auf Wikimedia Commons, public domain).

In Zeiten von Teilchenbeschleunigern, Highspeed-Glasfaserkabeln und Effizienzoptimierung blüht eine Gegenbewegung auf, die sich Slowfood oder Entschleunigung zum Ziel setzt und hinterfragt, ob eine Lücke im Lebenslauf tatsächlich einen Wettbewerbsnachteil oder Lebensqualität bedeutet. Zeit ist tatsächlich ein rares Gut geworden, jetzt wo wir gelernt haben, so viel von ihr einzusparen. Selbst wenn im antiken Paradoxon das Wettrennen nur scheinbar von der Schildkröte gegen Achilles gewonnen werden kann, bleibt diese der stille Sympathieträger gegen jeden wissenschaftlichen Nachweis, dass es sich um einen Irrglauben handelt. Schadenfroh erfreuen wir uns am schneidenden "Ich-bin-schon-da" des Igels im Wettrennen gegen den am Ende keuchend kollabierenden Hasen. Die Kinder-Serie Yakari besitzt mit Müder Krieger ebenfalls einen Charakter, dessen Langsamkeit erfrischend ist, und sei es nur, wenn sein Regentanz am Ende einer Folge - fast vergessen der Auftrag - das ersehnte Himmelswasser auf den dürren Boden bringt.

Andreas Steinhöfels Rico aus der Kinderbuch-Serie mit Rico und Oscar stellt sich mit den Worten vor:

Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten ... 

Glücklicherweise trifft er den fixen Oscar und die beiden werden ein Gespann - Ricos Langsamkeit balanciert sich mit Oscars hermetisch behelmter Cleverness und Unbeholfenheit sehr schlagfertig aus ...

Sten Nadolnys Welterfolg "Die Entdeckung der Langsamkeit" hat mich nie vollständig in seinen Bann gezogen. Aber der Romaneinstieg blieb haften wie auch die enorme Tragödie des vielleicht zu waghalsigen Vorhabens, das dem Roman zugrunde liegt. Im ersten Kapitel wird die verzerrte Wahrnehmung der Zeit - wieder einmal im Setting der flachen englischen Marschlandschaft - dargestellt,  wieder ein Turm mit einer Uhr, eine ewig festgehaltene Schnur im Spiel und ein Blick, der im Sehen verharren muss, um gründlich zu begreifen. Details müssen einen langen Weg zurücklegen, es scheint, als schaue Nadolnys Protagonist umgekehrt durch ein Fernrohr, das allerdings die Fähigkeit besitzt, einzelne Bestandteile des von weit eintreffenden Bildes überproportional zu vergrößern. Der Makel des so verzögerten, erschwerten Blickes von John Franklin reift zur Tugend, zum Vorteil im beharrlichen Kampf, die Passage durch das Eismeer in Richtung profitabler Handelsroute zu erobern. Das Scheitern seiner Expedition ist gewaltig und fand eine filmdokumentarische Bearbeitung bzw. Recherche, die entsetzliche Bilder von im Eis überlebter Leichen in mein Gedächtnis gebrannt hat. Eine abgemilderter Hinweis auf die Tragödie findet sich auf einer Webseite, die die Fotos einiger Eisgräber veröffentlicht: http://www.ric.edu/faculty/rpotter/franklinsites.html Faszinierend ist für mich bis heute, dass Sten Nadolny wie Andreas Steinhöfel das Potential des Motivs der Verlangsamung erkennt und am Ende so ausgestalten kann, so dass ein langsamer Funke ... man kann es eigentlich nicht überspringt nennen … etwas mit uns anstellt.

Robert Skidelsky ist Wirtschaftswissenschaftler, sein Sohn Edward Skidelsky Philosoph. Beide widmen sich in ihrem gemeinsamen Buch der Frage: "Wie viel ist genug?" Sie vertreten die These, dass ein Umdenken, ein Gegensteuern wichtig wäre und eröffnen einen Weg. Ohne Muße gibt es keine wirkliche Zivilisation liest man da. Modelle eines Grundeinkommens werden diskutiert, in Berlin gibt es dazu in unserer Gegenwart einen Modellversuch. Schildkröten haben eine sehr hohe Lebenserwartung. Denken braucht Zeit. Vielleicht helfen aber auch Verse von Heine, die uns die Sinnlichkeit in Erinnerung rufen als Gegenentwurf zum Achill, zur Ferse, zum Dax und Bitcoin:

 

Unser Grab erwärmt der Ruhm.

Torenworte! Narrentum!

Eine beßre Wärme gibt

Eine Magd, die verliebt

Uns mit dicken Lippen küßt ...

Die Schiffe, mit denen Franklin in See stach hießen Erebus und Terror (Foto links auf Wikimedia Commons, public domain); rechts eine digitalisierte Seite einer alten Gazette, die unter folgendem Link zu finden ist: https://archive.org/details/gleasonspictoria01glea/page/320

 

Schnipsel 128: Topsy-Turvy

Nur ein kleiner Nachtrag. Mit neun oder zehn ist man froh, nicht in Australien zu sein, da man dort auf dem Kopf steht. Die Kugel hat man begriffen, wie man sich aber dort unten in Down Under halten kann, bleibt unbegreiflich. Die Bildsprache der Umkehrung, des Auf-den-Kopf-Stellens möchte ich um zwei Beispiele erweitern. Bisher sind uns Gryphius umgekehrte Kirche, Dickens Pip, Petrus und die Kerze begegnet, leider auch Mussolini. Wenn Büchners Lenz durchs Gebirg stapft, äußert sich sein Verrücktsein im Gedanken, dass es ihm manchmal unangenehm sei, nicht auf dem Kopf gehen zu können. Vielleicht könnten auch die Pferde in Swifts Gulliver als Verkehrung, aber nicht als Verdrehung gesehen werden. Einen halben Dreher findet man im Schlafzimmer von Leopold Bloom, da dieser mit den Füßen neben Mollys Kopf zu schlafen pflegt. 

Fotos außen: Die verkehrte Welt in Sinn-Bildern aus dem Lexikon der Revolutions-Ikonographie, Justus-Liebig-Universität, Historisches Institut, Gießen; ein altägyptischer Papyrus-Ausschnitt (beide auf Wikimedia Commons, public domain).

Das Foto in der Mitte mit dem umgekehrten Weihnachtsbaum ist unter dem Titel "Lafayette Weihnachtsbaum verkehrt" J.hagelüken veröffentlicht: Paris Galeries Lafayette Weihnachtsbaum verkehrt (CC BY-SA 4.0). 

Die Glitzerwelt könnte man vielleicht auch so als etwas verkehrt sehen ...

Schnipsel 129: Diszipliniert faul - Klaus Mähring

Ein bekannter Gießener Künstler zählte einmal zu den schnellsten seiner Kreativzunft, bis er einhielt. Von ihm kenne ich die Anekdote bzw. Zeichnung, in der ein auf einem Sessel sitzender tiefenentspannter Mensch von einem Passanten gefragt wird, was er mache. "Nix." Die Begegnung wiederholt sich am folgenden Tag, die Frage, die gleiche Antwort: "Nix." Auf die überraschte Reaktion, dies habe er doch bereits am Tag zuvor gemacht, entgegnet der Mann: "Ich bin nicht fertig geworden." Ein französischer Film fällt mir ein, in dem ein Mann sehr zum Entsetzen eines ganzen Dorfes entschieden hat, sein Bett nicht mehr zu verlassen. Sein Hund versorgt den Mann mit der Tageszeitung und den nötigsten Einkäufen, eine Batterie von Würsten hängt über dem Himmelbett und kann bequem mit wenigen Zügen an Seilen portionsweise herabgezogen werden. Es scheint so einfach.

Der Fotograf Klaus Mähring hat ebenfalls dem Laufschritt durchs Leben den Rücken zugekehrt. Seine Haltung ist nicht nur privat, sie wird zum öffentlich gemachten Projekt, Ausdruck einer Botschaft. Sein Leben wird zum Gegenentwurf, der die Absurdität geleckter Wohlstandshetze entlarvt. Man schmunzelt zunächst über seinen Satz, dass die Rückkehr zum natürlichen Zustand des Menschen, dem Zustand der Faulheit, heute tatsächlich Disziplin verlange. Er hat recht, zu stark haben sich die Prägungen der Eile bereits in uns eingenistet.

Was mich an den Bildern von Klaus Mähring so beeindruckt, ist die neue Tiefe, greifbare Echtheit, egal ob in seinen Portraits oder Landschaften. Hierzu hat er auf eine analoge Großformatkamera zurückgegriffen. Ein Kratzer, die Spur der Fotoplatte, die nicht ganz gerade Horizontlinie weisen auf den Entstehungsprozess hin, wollen keine Makellosigkeit vorgaukeln, die im mittlerweile jedem zur Verfügung stehenden Zugriff auf digitale Ausrüstungen kein Qualitätsmerkmal bedeutet. Das Fahrzeug ist ein alter Bus, die Reiserichtung wird nicht von der Suche nach dem Idyll bestimmt. Auf seiner Homepage - http://www.klaus.maehring.at/ - sind die Bilder zu sehen. Es sind nicht so viele. Die wenigen machen süchtig nach mehr. Dieses Mehr leitet aber den Fotografen nicht mehr. Seine Fotos ergeben sich aus dem richtigen Moment, es sind nur wenige Auslösemomente. Mehr findet sich auf einer sehr (ent-)spannenden Dokumentation: https://www.youtube.com/watch?v=g5I3NZ82WLk

Heinrich Böll hatte in seiner Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral eigentlich schon den Weg bereitet, er schrieb sie als Beitrag zum Tag der Arbeit am 1. Mai 1963. Klick.

Klaus Mähring erlaubt mir für diesen Blog die Wiedergabe seines Fotos "Bus on the Edge of Sahara, 2011" (c). Ich war erstaunt, wie schnell er antwortete, vielen Dank für den netten Kontakt! Zurzeit arbeitet er im Südburgenland am Aufbau eines Fotolabors, das nach seinen Worten viel Platz für Muße bieten wird.

Schnipsel 130: Long Distance Call

(c) Stefan  Scheffler

In Agatha Christies Mord im Orientexpress kann Hercule Poirot einem Rätsel auf die Spur kommen, weil sich jemand verrät, indem er das in den USA übliche Wort für Ferngespräch benutzt und nicht das britische. Die Erfindung des Fernsprechers ist in ihrer Urheberschaft komplizierter, als man denkt, und international verzweigt. Alexander Graham Bell ist mein Namensfavorit. Bellen trifft den Ton manchmal treffender als Klingeln. Meucci kenne ich als Billardqueue, dass ein Antonio Meucci weniger wirtschaftlich erfolgreich als Bell seinen Erfindergeist mit im Spiel hat, finde ich ebenfalls sympathisch. Philipp Reis ist ein Pionier, leider ist der Duktus seiner frühen Test-Botschaft zwar zweckdienlich, doch sperrig: "Das Pferd frisst keinen Gurkensalat."

1929 ist in Erich Kästners Kinderromanklassiker Emil und die Detektive der Kleine Dienstag an der Telefonanlage seiner wohlhabenden Eltern bereits gleichberechtigt wichtig wie Gustavs Hupe im Straßen-Einsatz, auch wenn sich ersterer natürlich schrecklich langweilt in der Stube. "Parole Emil" hört sich aber schon griffiger an. 

1922 ist das Telefon bereits in Franz Kafkas Roman Das Schloss an seinem literarischen Höhepunkt angekommen. Das dokumentiert Kafkas Rang. Bereits im ersten Kapitel will der Landvermesser K. mit dem fernen Ziel telefonieren, der Apparat befindet sich über seinem Kopf. Später wird er noch einmal durchkommen, die Bürokratie verdichtet sich akustisch zu einem sphärischen Gesäusel. Die Sprachklarheit der Übertragungstechnik hat in unserer Gegenwart sicherlich ein hohes Niveau erreicht, die Unerreichbarkeit jedweder höheren angerufenen Instanz ist geblieben. Die Sprache des Callcenters ist kryptisch, die Abnahme eines behördlichen Telefonhörers immer noch einer seltsamen, nie zu durchschauenden, nur zu erahnenden Willkür unterworfen.

1982 werden der analogen Technik unserer Welt durch Steven Spielberg Grenzen aufgezeigt, die es zu überwinden gilt. E.T. kann nicht nach Hause telefonieren. Heute könnte er es sicherlich, nun aber in den Zeiten der All-Konnektivität löst sich die Verbindung zum Selbst auf, wie es uns Daniel Kehlmann mit seinem Charakter Ebling aus dem Roman Ruhm vorführt. Eblings Griff zum Mobiltelefon unterstützt Fliehkräfte, die schließlich zwei Menschen aus ihrer Bahn tragen.

Die Zukunft braucht eigentlich nicht mehr in den Blick genommen zu werden, da sie telefonistisch in den 1960er Jahren mit TARDIS ein Level erreichte, das in seiner Ästhetik bis heute überzeugt und sich als Motiv sogar in J.K. Rowlings Harry Potter Romanen wiederfindet. Diese blaue polizeiliche Notrufzelle, die innen größer ist als nach den wahrnehmbaren Außenmaßen erahnbar (so wie das Zelt der Weasleys eben), ist eine Zeitmaschine, eine Überwinderin über den Raum hinaus. Die Namenserklärung Time And Relative Dimension(s) In Space kann ich nicht guten Gewissens weitergeben. Der Spezialist der Serie Dr. Who bleibt eben Herr Schneider. Was mich allerdings erfreut und in den Fluss der Gedanken der letzten Einträge passt, ist der Hinweis, dass tardis lateinsich langsam bedeutet … πάντα ῥεῖ.

Wir können ab heute den Sturm auf dem roten Planeten Mars hören: https://www.youtube.com/watch?v=yT50Q_Zbf3s

Fotos v.l.n.r.: Alexander Graham Bell, Antonio Meucci und Philipp Reis (auf Wikimedia Commons, public domain).

Fotos v.l.n.r.: Die Fassade einer Berliner KITA (auf Wikimeida Commons, public domain); ein Requisit der BBC fotografiert von Babbel1996Tardis BBC Television Center (CC BY 2.5) sowie die Telefonanlage von E.T. von Mattingly23: ET Communicator Cropped (CC BY 3.0).