Schnipsel 101: Jannicott

Foto: (Great)-Grimsby (auf Wikimedia Commons, public domain).

The true voices were on the paper anyway … und er Jannicott wird den Hörer nicht in die Hand nehmen, sondern den Brief schreiben, den Weg der Generation des pre-telephone Zeitalters nehmen. Mir fällt es schwer, David W. Debney einen Brief zu schreiben, schon die Anrede würde mir nicht gelingen. Viele Jahre lag der Band der Jannicott Geschichten von Jack Debney in meinem Regal. Bereits als Student bin ich vor der Virtuosität der Sprache der Shortstories meines Hochschul-Lektors an der Universität Marburg eingeknickt. Der zweite Anlauf vor vielen Jahren scheiterte, da mir der Protagonist zu alt erschien, es schien mir, als sei für die reich gefüllte Welt dieses Menschen in meiner bereits als bis zum Anschlag angefüllt wahrgenommenen Gegenwart kein Platz. Jetzt habe ich Debney gelesen, es kostet Vokabel-Energie, die Belohnung ist umfassend. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem Leseleben eine ähnlich subtile Darstellung eines Charakters einer absolut glaubhaften, nicht konstruierten Realität erlebt zu haben, außer in Joyces Dubliners vielleicht. (Über Jannicott selbst zu schreiben, ist mir in keiner Kürze möglich.) Debney lässt Jannicott über pastiche Nachdenken, weniger ein Plagiieren als ein Echo von einem bewunderten Autor, das in eigenen Texten nachklingt, ohne dass es den meisten Lesern überhaupt auffallen könnte, dass es diesen Einfluss je gegeben hat. Der Nachhall von Joyce, und wenn es nur im Namen Cunningham oder der Trunkenbold-Geschichte ist, oder im Anspruch, einen schonungslosen Blick auf alle dem Menschen innewohnenden, oft unbedeutenden Abgründe zuzulassen, bedeutet für mich einen Übergang zurück zu meinem Lehrer Debney selbst zu finden, und wenn nur über den Umweg, dass er mein Essay zu Ulysses gelesen hat, vielleicht mit auf den Weg gebracht hat.

David W. Debneys Schreibtisch und die Form zurückgegebener Essays, vielleicht auch das Geklimper von Münzen in seiner Tasche hat eine Schnittmenge mit dem Trenchcoat von Inspektor Columbo. Auch hier war zu lernen, dass der erste Eindruck (z.B. einer cholerischen Neigung) am Ende einem anderen Erleben wich. Auch Debney besaß die Blitzgescheitheit Columbos, wichtiger für mich war, dass am Ende mancher Schroffheit oft ein milderes Urteil gefällt wurde als erwartet. Manchmal hätte ich mir gewünscht, die Qualität zu liefern, die seinen Fähigkeiten als Lehrer gerechter geworden wäre. Angestrengt habe ich mich trotzdem. Mit keinem meiner Lehrer kann ich mehr gelernte englische Begriffe, Wörter oder Formulierungen noch heute in Erinnerungen bringen, die ich schließlich dann beim Lesen seiner Texte wiederfinden konnte. Die Warnung vor hackneyed phrases - auch wenn sie sich im Abschied von Ruth als stabilisierend und in seiner Wertung sehr Englisch erweisen - oder der Hinweis auf die Aussagekraft von telling details, vielleicht als Stellen, die am Ende die Markierung eines Lesers als purple patches finden. Sofort leuchtete mir ein, wenn Debney auf die Wirkung von Landschaften auf den Menschen hinwies. Der Blick aus dem Uni-Turm war sicherlich schön - Yes, it's nice, so what? Dann das in Sekundenschnelle evozierte Bild der flachen Marschlandschaft seiner englischen Heimatstadt bzw. Lincolnshires, für ihn bedeutungstragend, für mich nachvollziehbar. Der Wirkung der flachen Marschlandschaft begegnete mir später noch einmal, als ich die Anfangskapitel von Charles Dickens Great Expectations las oder in Simon Beckets Setting für Totenfang.

Ketelsby gibt es als schleswig-holsteinische Wikinger-Siedlung tatsächlich, als Ketilsby ersetzt der Name (Great-) Grimsby. (Unser Essay-Writing-Kurs hatte sich den Spaß erlaubt, diesen Namen in alle Essays einfließen zu lassen - selten war ich so stolz auf einen Lehrer, der von seiner Wut berichtete, da ihm das Lesen monoton wurde, der Witz überreizt schien, und die daraus resultierende Wut fand Luft in (eh bereits legendären) Randbemerkungen. Dann entschuldigte sich Debney vor dem Kurs für genau diese Wut, er würdigte den Spaß fast reumütig. Der einfache Gedanke wäre gewesen, die Wut zu verteufeln, den zornigen Anfall zu zügeln.) Jack Debney ist aber vielleicht deshalb ein Meister darin, jede Wahrheit des Gefühls einzufangen, weil er sie wahrnimmt und nicht verbannt. Ob das so ist, kann ich natürlich nicht sagen, dazu kenne ich ihn und auch seine Literatur am Ende doch zu wenig. Mit seinem Charakter Jannicott hat er jedenfalls einen Menschen mit allen Facetten kreiert. Das Wesen des Menschen wird in seinen kleinen Lebenslügen und Fehlbarkeiten dokumentiert, es gibt keinen Filter, die Analyse ist schonungslos, wenn auch manchmal nur in den Andeutungen oder angedeuteten Visionen. Jannicott, eben noch Richter über Verfehlungen eines auf Irrwegen befindlichen, gefallenen Lieblingsschülers, dann Spielball einer sich über ihn herfallenden Lust. Die Schilderung des Ehebruchs verschwimmt im Tagtraum. Manchmal gibt es Überblendungen von unklaren Stellen, wo dem Leser nicht klar wird, ob es sich noch um eine Vision oder schon um eine echte Erinnerung handelt. Grenzen, Gefühle, Moralvorstellungen verschwimmen wie im Küstennebel.

Grenzen, Limits sind ein durchgängiges Motiv. Grenzziehungen begegnen dem Leser immer wieder auf subtilste Weise in Jannicott; erneut der Hinweis: Dazu wäre mehr zu schreiben. Bernard Jannicott als trauernder Witwer muss eine Zäsur setzen, sich positionieren, um dem Automatismus einer nie vollständig eruierten neuen Beziehung Einhalt zu gebieten, auch wenn er einen in seinem Lebensabschnitt der ersten Geschichte hohen Preis für den am Ende abgekanzelten Neubeginn zahlt. Die späteren Geschichten zeigen, dass seine Trauer kein Konstrukt ist, die ihm oder dem Leser eine nie wahr gewesene Reibungsfreiheit in der Beziehung zu seiner Frau Ruth vorgaukeln muss, um echte Trauer zu sein.

In der letzten Geschichte trifft der zehnjährige Bernard Jannicott auf seinen Großvater im Sterben, der von ihm möchte, dass er aus den Predigern vorliest. Das tut er, und er blättert weiter und im Anschluss steht Das Hohelied Salomos. Borders. Border People. Echoes.

 

Dear Mr. Debney … 

 

(Mittlerweile ist der Brief gesendet und auch eine sehr nette Antwort ist gekommen …) 

Fotos: V.l.n.r.: Stephen Horncastle: Saltfleetby - Theddlethorpe Dunes - geograph.org.uk - 549218 (CC BY-SA 2.0);  Anne Burgess: Haar at Lunan Bay - geograph.org.uk - 215862, (CC BY-SA 2.0); Simon Fidler: Thornton Abbey - geograph.org.uk - 359165, (CC BY-SA 2.0): 

Sollersby / Saltfleetby, the haar, ein Schreckmoment im Küstennebel und Throxton / Thornton (?) Abbey.

Mit dem Link https://www.grimsbytelegraph.co.uk/news/nostalgia/what-happened-statue-grim-havelock-434751 findet man ein Bild, das zeigt, was aus der Ketil / Grim Statue geworden ist und ihrer "kleinen Nacktheit" …

Schnipsel 102: Schnipsel-Gattenmord

Foto: Jean-Pierre Letourneur (c)

Einen länger brachliegenden Acker wieder zu bestellen, ist manchmal bei aller Freude etwas steinig, oder ist es der Acker selbst und die Tätigkeit mühesam oder mühvoll. Die Formulierungen treffen noch nicht ins Ich-will-es-nicht-Schwarze-nennen. Der nette Herr aus der Ente von Schnipsel 34 regt einen Schnipsel zum Gattenmord an … in einem irischen Lied heißt es eher umgekehrt: I buried my wife and danced on top of her …

Jean-Pierre Letourneur arbeitet weiter an Aphorismen. Tucholsky nannte seine auch "Schnipsel". Hier beißt nun eine Webseite zu, die ausgerechnet einen meiner Lieblingszitate als Ente entlarvt: "Wer nach allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein" soll nicht von Tucholsky sein. Es gibt noch viele Fäden aufzunehmen oder abzuspulen, ich will es nicht abwickeln nennen. Hier ein Original, auch sehr sperrig ...

Foto und Aphorismus: Jean-Pierre Letourneur (c)

Schnipsel 103: … sie flirren nicht.

(c) Stefan Scheffler

Ausgerechnet in einem Stilistik-Seminar, ich hoffe, es war nicht der Dozent, brüstete sich jemand, dass er nach langem Nachdenken herausgefunden habe, mit welchem treffenden Verb man ausdrücken könne, was Birkenblätter im Wind tun, sie flirrten. Mir schmeckten die Holunderblüten im Krebbel[sic]teig in Öl ausgebraten damals besser als diese Erkenntnis. Ich weiß nicht, wie oft ich seitdem auf das seltsame Wort flirren gestoßen bin und es immer markierte. Glücklicherweise erlöste mich irgendwann mal Kurt Tucholsky mit diesem zufällig gefundenen Text: 

 

Mir fehlt ein Wort

Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell, hin und her, daß sie... was? Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern – aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? […]

Was tun die Birkenblätter? Während ich dies schreibe, stehe ich alle vier Zeilen auf und sehe nach, was sie tun. Sie tun es. Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben. (1929)

 

Text: Gemeinfrei auf Projekt Gutenberg 

 

Der Schreibwettbewerb für 16- bis 25-Jährige des Jungen Literaturforum Hessen-Thüringen heißt "Kämpf um jedes Wort": www.hmwk.hessen.de/junges-literaturforum

Schnipsel 104: Muss los

… die größte Sprachgenauigkeit erreichen die jedes Jahr wieder zu wählenden Jugendwörter des Jahres. Ein Fest. Viele aus der Auswahl scheinen eher von Germanisten oder Deutschlehrern erfunden: lindnern, emojionslos … hab ich noch nie gehört. "Brhh" oder so höre ich ständig, weiß aber nicht, ob das überhaupt ein Wort ist. Die Schüler haben es mir versucht zu erklären, selbst mit genauer Quelle und dem Konzept des … ich hab's vergessen. Wenn im Internet so ein Online-Schnipsel-Dings steht. Die besten der letzten Jahre waren juckt und muss los oder in seiner Steigerung Nasenbluten, muss los ...

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 105: Plenzdorfs Werthers Jeans

Manchmal ist es nur noch eine Seite, die von Büchern hängen geblieben ist, oder ein Zitat: Aus Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. sind es folgende Zeilen:

Es tötete mich immer fast gar nicht, wenn ich so einen fünfundzwanzigjährigen Knacker mit Jeans sah, die er sich über seine verfetteten Hüften gezwängt hatte und in der Taille zugeschnürt. Dabei sind Jeans Hüfthosen, das heißt Hosen, die einem von der Hüfte rutschen, wenn sie nicht eng genug sind und einfach durch Reibungswiderstand obenbleiben. Dazu darf man natürlich keine fetten Hüften haben und einen fetten Arsch schon gar nicht, weil sie sonst nicht zugehen im Bund. Das kapiert einer mit fünfundzwanzig schon nicht mehr. Das ist, wie wenn einer dem Abzeichen nach Kommunist ist und zu Hause seine Frau prügelt. Ich meine Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich hab überhaupt manchmal gedacht, man dürfe nicht älter werden als siebzehn - achtzehn […]

Plenzdorf starb 2007 im Alter von 72, er schrieb u.a. das Drehbuch des DEFA-Films Die Legende von Paul und Paula.

Foto: Wikimedia Commons, public domain.

Schnipsel 106: Rilkes Kinderschürze

Welche Farbe hat die Irische See? Stephen Dedalus glaube ich nennt sie snotgreen, was Hans Wollschläger den Anlaut nachzeichnend mit schneuzgrün übersetzt, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, obwohl ich es nicht mehr finde, nur noch rotzgrün ... Die Farbe richtig zu treffen, ist immer dann schwer, wenn sie zurückgenommen ist, ausgeblichen - wenn also in der Farbe mehr als die optische Wellenlänge steckt, sondern die Macht der Vergänglichkeit, für die Gryphius den Vergleich zieht, wie eine Wiesenblum', die man nicht wiederfind't. So einen Vergleich hat auch Rilke in der Beschreibung der Farbe der blauen Hortensie seines gleichnamigen Gedichtes gefunden, den ich nicht vergessen kann, da ich genau diese Farbe, nur in Grün, mit einer genähten Kinderschürze verbinden kann: "... wie in alten blauen Briefpapieren ist Gelb in ihnen, Violett und Grau; /  Verwaschenes wie an einer Kinderschürze". Die Kindheit Rilkes in Mädchenkleidern fällt mir ein, das ist aber eine andere Idee ...

Fotos: Wikimedia Commons, public domain.

Schnipsel 107: Ours was the marsh country

Irgendwo auf der ersten Seite von Charles Dickens Great Expectations steht der Satz, den ich seit Jahren als einen der vielen literarischen Riffs in mir trage wie Musiker das dmm-dmm-dmm … dmm-dmm-dm-dmm des Anfangs von Smoke on the Water von Tiefes Lila. Der drei- oder vier-jährige Pip wird vom auf der Flucht befindlichen Convict, dem entflohenen Häftling Abel Magwitch schlichtweg auf dem Friedhof im Marschland vor dem Hintergrund eines bleiernen Flusses und einer vage schimmernden See im noch ferneren Hintergrund am Fuße hochgehoben und unsacht weltverkehrt in die Dunstigkeit des düsteren Ortes gehoben. Ich habe die Stelle mehrmals lesen müssen, bis ich die Drehbewegung mit dem Kopf nach unten am Ende als solche akzeptiert hatte. Jahrelang wird Pip auf hunderten Seiten Dickensischer Literatur im Glauben leben, der sich im Hintergrund wohlwollende Geldsegen stamme von Miss Havisham. Ihre Nichte Estella bleibt auf all diesen Seiten die unerreichbare Glanzgestalt all seiner Sehnsucht. Havisham richtete Estella ab, um ihren Rachefeldzug nach ihrer eigenen Zurückweisung auf den Weg zu bringen und auf höchstes Sehnsuchtsniveau zu heben, Pip ein zweites Mal das Opfer. Im Staub des Hauses der zum Stillstand gebrachten Uhren und des zelebrierten Selbstmitleids bleibt Pip über Jahre, auch der Jahre eines materiellen Aufstiegs am Ende ein geblendeter Gefangener seiner Sehnsuchts-Illusion. Nie wurde er von Miss Havisham - es gibt die Lesart to have is shame - protegiert. Es war der treue Convict, der mit neuer Kraft Pips Loyalität als Vierjährigen belohnte, mit am Ende unlauterem Geld. Die bleakness des Ortes des Marschlandes findet sich als Grundatmosphäre durchgängig in diesem Roman. Am Ende gibt es viele Verlierer. Spannend ist, dass vor dem Schleier, der Undurchsichtigkeit der Anfangsszene am Ende eine ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde. Der niedrigste kam nach oben, Estella - the star - fiel am tiefsten … das hat mich damals sehr beeindruckt beim Lesen und durch die Interpretation eines Lehrers in Canterbury. Wenn Deep Purple den Einstieg lieferte, könnte man vielleicht schließen mit dem Hinweis, dass Dickens Bösewicht aus David Copperfield der Rockband Uriah Heep als Namenspate diente. Ihr größter Erfolg war eine Black Lady, keine im Brautkleid gefangene weiße ...

Fotos: Mitte: Neil TheasbyFairfield Church - geograph.org.uk - 1484754 (CC BY-SA 2.0); links und rechts: Pip und Abel Magwitch und eine alte Illustration des Marschlandes (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel 108: Ekmans universelle Mimik

Dieser Schnipsel wurde von mir immer wieder vertagt, mittlerweile verblasst mein Wissen zu Paul Ekmans Buch Gefühle lesen. Ich weiß nicht, wie umstritten Ekman und seine Forschungsergebnisse heutzutage sind, ich halte mich an meine eigenen Wahrnehmungen und Leseerinnerungen und fange am besten bei den verblasstesten an, für die ich keine Gewähr auf Richtigkeit mehr geben könnte. Begeistert hat mich zunächst, dass Ekman sich durchgebissen hat und erst aufgehört hat, als er wusste, was er wissen wollte. Manchmal hatte ich einen ganz kleinen Zweifel beim Lesen, ob er herausgefunden hat, was er herausfinden wollte. Zweifel gab es zum Beispiel an seiner Behauptung, dass sich ein Gefühl tatsächlich auch über die Mimik selbst beeinflussen lässt, sozusagen einen Rücklauf über die Muskelkontraktion auf die innere Befindlichkeit. Auch der Hinweis, ob die Konzentration auf eine Tätigkeit, die sonst automatisiert abläuft, zu messbar veränderten zerebralen Strukturen oder Hirntätigkeiten führt wie zum Beispiel Atem-Meditationen beim Yoga, fand ich spannend, zweifelte aber; auch die Fernsehserie Lie to Me, die auf Ekman zurückgreift, kenne ich bis heute nicht. Umso atemberaubender fand ich dann den Weg und die Argumentation, die am Ende nachweisen, dass es nur wenige Gesichtsausdrücke gibt, die universell sind und nicht von kulturabhängigen Prägungen abhängen. Selbst die Kopfbewegung für ja oder einen Gruß in Irland oder Nordengland bekomme ich selbst nicht hin, ohne dass ich mir den von der Halswirbelsäule gerutschten Kopf wieder annähen muss, oder das angelsächsische Abzählen an der Hand, das nicht vom Daumen, sondern vom kleinen Finger startet, kenne ich; so leuchtete mir ein, dass auch in der Körpersprache und Mimik enorme kulturelle Varianten existieren müssen. Beharrlich zählt Ekman die an der Mimik beteiligten Gesichtsmuskeln, es sind mehrere Dutzend, dann arbeitet er das Zusammenspiel feinster Nuancen heraus, findet sich widersprechende Mimiken oder entlarvende Sekundenbruchteile, an denen er eine Lüge oder ein Heucheln erkennt oder diese nachweisen kann. Ein uraltes Wissen, das wir intuitiv besitzen, hier wurde es akribisch untersucht. Aber wenige Gefühle sind global mit den Gesichtern unserer Spezies verschweißt, der Ausdruck überspringt die Grenzen der Spezies und verbindet uns zum Teil mit anderen Kreaturen. Es sind tiefe, alte Gefühle, deren unmittelbares Äußern, Spiegeln oder Wiedererkennen dem Überleben der Art dienen. Ekel. Ihn erkenne ich jetzt immer, an zwei Stellen hebt sich die Oberlippe, die Nase rümpft sich. Freude, Trauer, Wut. 

Dann steht irgendwo die Anekdote, die mir den Text Ekmans so wichtig macht. Ein sanftmütiger Professor, nie streng in der Bewertung, immer freundlich im Umgang, wunderte sich, vielleicht wunderten sich aber auch andere darüber, dass er die Gefühle im Auto an einer Ampel nicht unter Kontrolle halten konnte. Warum blendete sich hier alle Sanftmut aus und wich einer Kampfbereitschaft, einer zornigen Schädeleinschlagbereitschaft? Der Flucht- oder Schnelligkeitsmessreflex ist im Mann wohl alt, alt wie die Keule, auf jeden Fall älter als die kultivierte Messer-und-Gabel Sanftmut im Unigebäude. Das heißt, an doppelspurig ausgebauten Ampeln und vielleicht auf deutschen Autobahnen besitzen wir eine der Highspeedglasfaserverbindung ähnliche neuronale Direktverbindung in die emotionale Steinzeit.

Fotos: Links Gert Germeraad: Portret van een man005 (CC BY-SA 3.0); rechts Paul Ekman Group: LLC, Paul Ekman (CC BY-SA 3.0).

Schnipsel 109: I'm not a hero

Warum ich Joyce weitergelesen habe, verdanke ich wohl auch dem Ausspruch von Stephen Dedalus: "I'm not a hero." Einer unserer ersten Englischlehrer, Herr Krumbiegel, hat Shakespeare zitiert, es ist wohl aber in dieser Form von Hemingway, auch wenn es beim Barden die Caesaren-Vorlage gibt: "The coward dies a thousand deaths, the brave but one." Harold Chasen hat wohl die meisten Tode überlebt … und am Ende fällt mir noch eins meiner inneren Riffs von T.S. Eliot aus dem Wasteland ein: A crowd flowed over London Bridge, so many, / I had not thought death had undone so many. Es gibt wohl Schätzungen, wie viele Menschen jemals auf diesem Erdball gelebt haben, die Zahl ist endlich, wächst aber stetig.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 110: Cox's Timepiece

Fotos v.l.n.r.: Skizze eines Perpetuum Mobiles, Jean Joseph Merlin gemalt von Thomas Gainsborough, Kaiser Qianlong (auf Wikimedia Commons).

Marcel Proust begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu), Paulchen Panther fragt sich in Schnipsel 99, wer an der Uhr gedreht hat … ein großes Thema, das wohl Zeit braucht. 

Einer der größten Träume des technischen Menschen ist die Erfindung eines Perpetuum Mobiles, des perpetual motion auf Englisch, die Loslösung aus allen Abhängigkeiten der Umstände, die durch Reibung oder Energieschwund das ewige Im-Gang-Sein ausbremsen. Die Loslösung aus der Zeit. Christioph Ransmayer schickt in seinem Roman Cox: Oder der Lauf der Zeit Alistair alias James Cox und Jacob alias Joseph Merlin fiktiv an den Hof des Kaisers von China - dem Herrn der Zehntausend Jahre, dem allmächtigen Herrscher und Gott über die Welt und die Zeit. Erst am Ende des Romans wird meine Begeisterung geweckt. Der erzählerische Clou, mit dem Ransmayr die Zwickmühle seiner Protagonisten auflöst und die Macht, über die Zeit zu herrschen, beim Kaiser belässt, ist phantastisch ersonnen. Ersonnen, dachte ich, sei auch die Uhr, die Cox und Merlin und zwei weitere Meister ihres Faches unter den argwöhnischen Augen des kaiserlichen Hofes konstruieren. 190 Pfund Quecksilber werden benötigt, um in einem hermetisch abgeschlossenen System fallende und steigende barometrische Luftdruckbewegungen in Antriebsenergie für das Uhrwerk zu liefern, die Dauer der Zeitmessung so lange zu gewährleisten, bis auf unserer Erde der Atmosphäre die Luft ausgeht, bis ans Ende des Lebens. Das System ist kein Perpetuum Mobile, aber es kommt am nächsten an die Idee dieser Bewegungsewigkeit heran, auch weil es die Wahrheit erkennt, dass in einem Kosmos in der Schöpfung unseres Daseins jedes System in einer Abhängigkeit zur nächst höheren Wirkungsebene steht. Atemberaubend diese Erfindung dichterischer Kreativität, besonders wenn man mittlerweile einfach die technische Überlegenheit der tatsächlichen Uhren und Automaten von Cox digital recherchieren kann.

Was wäre, wenn … wenn ein Land so mächtig wäre, dass es den größten Machtanspruch an die Welt stellen könnte und dafür eine geeignete Symbolik bräuchte. Wenn das Imperium einer Kaiserin de facto über die gesamte Welt Ausdehnung fand, wenn somit die Grenzen des Raumes, den es zu beherrschen gilt, greifbar, auf jeden Fall aber endlich sind? Dann wäre das größte Statement zum eigenen Machtbewusstsein, wenn man das eigene Zentrum zum Nullpunkt, zum Ausgangspunkt des Raumes macht, wenn man sagt, hier fängt der Osten, aber auch der Westen an. 1884 unter Königin Victoria wird der Null-Meridian festgelegt: in Greenwich, London. 1859 schlägt die mächtigste Glocke Big Ben im Herzen der Weltmetropole. Der Turm, den einige Touristen Big Ben nennen, ist nur die Hülle und er wird damals eigentlich nur als der Uhrturm, The Clock Tower bezeichnet, die Hülle für das größte Machtsymbol mit der genauesten und soweit ich weiß bis dato größten Uhr, die aller Welt deutlich macht, dass das British Empire Herrscher über die Zeit ist. 

1861 wird Great Expectations von Charles Dickens veröffentlicht. Im vergilbten Brautkleid hütet Miss Havisham die Trümmer ihres Reiches, um zwanzig vor neun sind alle Uhren ihres Hauses stehen geblieben, der Bund ihrer Ehe fand nicht statt. Zerfall und Zerstörung treten an die Stelle einstigen Glamours und eines ehemals progressiven Zukunftsanspruchs.

Alistair Cox in Ransmayrs Roman beobachtet einen Sänftenträger, der unter einem bluthustenden Anfall vor Erschöpfung zusammenbricht und im Schnee der Verbotenen Stadt stirbt. Auch hier ist ein System überlastet, die Dekadenz kippt, wenn sie am Anschlag angekommen ist, die Reibung lässt sich nicht mehr leugnen. In Blut gespucktes Blut leuchtet mahnender …

In letzter Zeit findet man unter Quellverweisen "syrisches Sprichwort", "arabische Redensart" oder "afrikanische Weisheit" selbst auf angebotenen online T-Shirts den Satz, durch den sich eine Welt von Europa oder der westlichen Welt abgrenzen will: "Ihr habt die Uhren, wir haben Zeit!" Bleibt nachzutragen: Die Uhr von Cox, es ist kaum zu glauben, gibt es wirklich. Das Timepiece genannte Wunderwerk, der mit Quecksilber angetriebene Verweis auf die Überwindung einer gehemmten Dauer steht in London, wie könnte es anderes sein, es ist das Victoria & Albert Museum … es lohnt sich, nach dem Ding mal zu gucken.

 

Das Foto links mit freundlicher Genehmigung des Victoria & Albert Museum, London (Cox' Timepiece), die folgenden Bilder auf Wikimedia Commons, public domain, das Foto rechts stammt von David Castor.