Schnipsel einundsechzig: Ein Kriminalfall

Leider in Deutschland noch nicht lizenzfrei, der Trailer der Verfilmung "Der Schatz der Sierra Madre".

Wenn einem das Motiv des Identitätsverlusts bzw. des Abstreifens einer Identität über den Weg läuft, fällt einem wohl zuerst Max Frisch ein: "Stiller" mit der Rip van Winkle Episode. Das lange Wegsein, das die Rückkehr in die alte Identität nicht mehr ermöglicht, die Zweifelhaftigkeit der Bedeutung von Identitätspapieren, Ausweisen, Genehmigungen. Die Motive Stillers über viele Seiten hinweg erzählt, kann ich kaum noch erinnern. Übrig geblieben sind in meiner Leseerinnerung das wütende, fast trotzig fordernde Auftreten des Protagonisten, das das Recht verlangt, abstreiten zu dürfen, derjenige zu sein, den alle anderen aufgrund der akuten Beweislage in ihm sehen wollen. Das große Motiv der Literatur, die die Tragödien der Flucht oder des Gangs ins Exil an der Papiergläubigkeit des bürokratischen Jahrhunderts festmacht, findet sich in Anna Seghers "Transit" oder Erich Maria Remarques "Die Nacht von Lissabon". Diese fesselnden Romane sind an den Häfen angesiedelt, an denen die Flüchtenden vor dem Nationalsozialismus auf die befreiende Passage zur Reise über das Meer warten.

B. Travens "Das Totenschiff" schildert das Motiv mit einer Anschaulichkeit der Darstellung der Ausweglosigkeit, die meiner Meinung nach unübertroffen ist. Auch hier liegt meine Lektüre Jahre zurück. Die Erinnerung an das düstere Spiel mit der Ahnung des Lesers, wonach jeder Versuch, eine stabile Identität zu erlangen, letztendlich zum Scheitern verurteilt ist, gerade wenn sich eine kleine Hoffnungstür auftut, scheint mir ins Lesegedächtnis eingebrannt. Dieses Buch ist in der Zeit der Wirren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges angesiedelt. Der Autor B. Traven hat aus dem Exil aus Mexico geschrieben. Seine Bücher gelangten zu Weltruhm, auch wenn Traven selbst heute fast vergessen ist. Der Höhepunkt des Erfolges ist sicherlich John Houstons Verfilmung "Der Schatz der Sierra Madre" mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle. Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ging ein britisches Filmteam der Frage nach: "Wer war B. Traven?" und recherchierte eine Geschichte, die sich als spannender als jeder Krimi erwies: "A Mystery Solved" lautete schließlich der Titel der Dokumentation.

Das Spiel mit der Identität, die Verzweigungen mehrerer abgelegter und neu angelegter Leben, das dieser Autor aus der Not heraus geschaffen hat, ist in seiner atemberaubenden Akrobatik bis heute von ungeheurer Faszinationskraft. Wieder wird eigentlich das Format der Kürze gesprengt. B. Traven hat die vielen Gerüchte immer auf Distanz gehalten, in Deutschland trat er als der Agent B. Travens auf. Man muss vielleicht den Hintergrund der tiefsitzenden Vorsicht kennen, wenn denn die Rechercheergebnisse am Ende so stimmen, dies kann man tatsächlich bis heute nicht mit absoluter Sicherheit sagen. 1923 wird in London ein Polizeifoto aufgenommen, das den verhafteten Ret Marut zeigt. Ein deutscher Schauspieler, der auf der Flucht aus Deutschland ist, da er federführend an der Münchener Räterepublik 1919 beteiligt war, jenem vier Wochen andauernden Revolutionsversuch in Deutschland, der am Ende in München aber auch Bremen blutig niedergeschlagen wurde. Toller saß 5 Jahre in Haft, andere führende Köpfe wie Erich Mühsam wurden hingerichtet. Dieses Schicksal hätte Marut ebenfalls zu erwarten gehabt. Der Londoner Häftling gibt eine andere Identität an, er sei Otto Feige. Seine Äußerungen werden später als wahr bewertet, da die von ihm genannten Details nur tatsächlich von Feige stammen können. Man geht also davon aus, dass Otto Feige bereits 1906 die Identität des Amerikaners Ret Marut angenommen habe, um Otto Feige hinter sich zu lassen. Nutzen konnte er die Wirren um den Datenverlust durch das große Erdbeben, der den Rückgriff auf den echten Ret Marut aus San Franzisco nicht mehr möglich machte. Am Ende gelingt die Flucht nach Mexico, Ret Marut wird zu B. Traven und schafft ein Werk, das sich auf die Erfahrungen und Überzeugungen eines Revolutionärs beziehen wird, der sich gerettet hat.

Die Darstellung der Plackerei im 31. Kapitel des Romans "Das Totenschiff" ist laut meines Lesegedächtnisses nur noch mit Upton Sinclairs "The Jungle" zu vergleichen - und vielleicht Büchners "Woyzeck".

Foto links: Verhaftungsfoto von Ret Marut (auf Wikimedia Commons, public domain).

Fotos der Novemberrevolution: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Revolution,_1918/1919

(Fotos sind in Anfrage).


Schnipsel zweiundsechzig: Grab und Graffito

Der Versuch der Räterepubliken scheiterte, mein Wissen reicht nicht aus, um den Versuch einer anarchistischen Staatsführung in Deutschland beurteilen zu können. Aus dem Schulunterricht kann ich mich eher an die bürgerlichen Reformationen oder die 1948er Revolution erinnern, die bereits in der literarischen Bearbeitung durch Thomas Mann eher blass ausfiel. Der Blick aus dem Buddenbrookschen Wohnzimmer, die leicht beiseite geschobene Gardine, der alte Buddenbrook, der die Lage in Lübeck plattdeutsch erledigt. Die Teilnahme Theodor Fontanes und der Widerspruch manch späterer Äußerungen von ihm. Die Mainzer Republik aus dem Jahr 1793 und die Schicksale, die aus dem Scheitern dieses Versuches entstanden, lernte ich erst im Literaturstudium kennen: Zum Beispiel Georg Forster, ein anderer Krimi. Der Mitreisende Cooks, der Mitbegründer der Mainzer Republik, der Flüchtling. Der Tod in Paris. Muster der deutschen Geschichte.

Die Erinnerungsschnipsel finden sich manchmal vor unserer Nase. Wenn die Marburger Verbindungen auf dem Marktplatz Frühschoppen machen wollten, kam aus einem Eckhaus oft Gegenwind in Form einer lauten Musikbeschallung. Genau am Eck dieses Hauses findet sich ein altes Graffito, wie es noch viele in Deutschland gibt. Gemalt mit einfacher Farbe: "Wählt Thälmann". Die Wertschätzung, vielleicht auch der historische Wert dieses Ecks scheinen gering, heute stapelt sich das eingepackte Mobiliar der Außenbestuhlung eines Restaurants vor dem alten Aufruf. Eine konservierende Abdeckung gibt es nicht, es ist ein Graffito unter tausenden auf wenigen Metern durch die Altstadt. Thälmann trat gegen Hindenburg und Hitler in der letzten Wahl der Weimarer Republik an 1932. Wie die Sache ausging, ist bekannt. Hindenburg selbst liegt auch in Marburg begraben, an prominenter Stelle in der Elisabethkirche, ich kenne wenige - selbst Marburger -, die dies wissen, zweifle manchmal nach Jahren, ob ich es selbst weiß. Die Ecke, in der Hindenburgs Grab liegt, ist verschämt dunkel gehalten. 1945 wurden die Särge von ihm und seiner Frau nach hektischer Flucht vor der roten Armee (können Särge fliehen?) hier beigesetzt. Auch hier steht heute etwas Gerümpel rum in der Grabnische. Die beiden Kontrahenten vereint in ihrem Schicksal Marburger Nischen. Eine Tafel gedenkt der Opfer von Kriegsgewalt und mahnt an einem Pfeiler vor der Grabnische Hindenburgs.

Innenaufnahmen der Elisabethkirche mit dem Hindenburg-Grab mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer Ludwig, Elisabethkirche, Wahlzettel der Reichspräsidentenwahl 1932 (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel dreiundsechzig: Der Trotz der kleinen Botschaften

(c) Stefan Scheffler

"Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind'" - lehrt uns Gryphius die Vergänglichkeit. Und doch, manchmal gibt es dieses Überleben im Kleinen, dort, wo die Dauer vielleicht am wenigsten erwartet und dem Vergessen ein Schnippchen geschlagen wurde. Warum faszinieren uns Graffitis, je älter sie sind? Zum einen, weil wir zunächst verdutzt darüber sind, dass es schon in der alten, vermeintlich ordentlicheren Zeit dieses Phänomen gegeben hat, dass sich Menschen an Wänden verewigen wollten. Heute sind die Botschaften vielleicht etwas inflationär gestreut, da geht dann die Faszinationskraft eher von den besonderen, vielleicht fragileren Botschaften aus, die einem erst auf den zweiten Blick ins Auge fallen. Alte Graffitis schlagen uns andererseits aber in den Bann, da die Ausdrucksform so direkt ist, die Botschaft nie groß gefiltert ist. Es ist eben nicht das große Kunstwerk, das große Tableau, sondern der impulsive Moment, wenn die Mitteilungsschleusen offen stehen, wenig Zeit haben und dann der Satz steht: "Wählt Thälmann!" oder "Kilroy was here!" Wenn ein kleiner Kassiber aus der Vergangenheit dann überlebt hat, freut uns, dass er dies häufig gegen das Verbot des Wändebeschmutzens geschafft hat. Im Monty Python Film "Das Leben des Brian" herrlich auf die Spitze getrieben, wenn der nächtliche Terrorakt, die Wände der Besatzer mit dem blutroten  "Romanes eunt domus" zu ärgern, fast zu scheitern droht, und erst durch den zwanghaften Belehrungseifer des Häschers in dann korrekter Grammatik an den Fassaden explodiert.

Wenn also der kleine, subversive Akt durch die Zeiten überlebt, rührt er uns an. Selbst der Drang, in Wänden den Ort für menschliche Überlieferung zu sehen, ist steinalt. Da ließe sich von den Höhlenmalereien in Lascaux über den Wandteppich von Bayeux bis hin zu den eingemeißelten Menschenrechten in der Straße vor dem Germanischen Museum in Nürnberg ein heroischer Faden spinnen. Es sind aber die kleineren Formate, die in ihrer juristischen, aber auch ästhetischen Ungezogenheit sofort mit uns in Kontakt treten und uns direkt als Eilmeldung erreichen. 

In der Literatur finde ich diesen Mechanismus bzw. das zugrunde gelegte Motiv z.B. in Heinrich Bölls Kurzgeschichte "Wanderer kommst du nach Spa" umgesetzt. Der bedeutungstiefe Tafelanschrieb, der im Einfall des Unheils nur noch im Fragment überlebt hat, da das Wegwischen schlagartig unterbrochen wurde. Dreht man die Mitteilungsebene um, findet sich ein gewaltiger Kommunikationsmoment einer vermeintlich kaum überlebensfähigen Zufallsbotschaft in Daniel Defoes "Robinson Crusoe". Durch einen Fußabdruck erfährt der gestrandete Einsiedler Crusoe, dass er nicht alleine auf der Insel ist ...

Die Augen geöffnet haben mir übrigens die Graffitis, die man im Schloss von Dover findet. Erst schien es ein langweiliger Ausflug zu werden, dann sah ich sie, die in Stein geritzten Mitteilungen einstiger Gefangener dieser Festung, die ältesten über 300 Jahre alt. Das Schreiben in den Stein als Fenster. Das Lesen im Stein ein Fenster.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel vierundsechzig: Leonard

Gleich zu Beginn des Filmes ritzt Leonard seinen Namen in eine Bank am Hudson River. Der Zuschauer findet später durch diese Szene in die Welt, die das erkrankte Kind hinter sich gelassen hat. Der Name konserviert, identifiziert einen Lebensmoment. Dr. Sayer wird im Film versuchen, Leonard durch eine Buchstabenschieblehre in die Gegenwart des Lebens zurückzuholen - der Arzt hofft auf die Kraft des eigenen Namens. Leonard wird einen anderen Namen schreiben: Rilke. Der Gang in die Bibliothek eröffnet Dr. Sayer den Blick in die Tiefe. Das Gedicht Rilkes "Der Panther" birgt den Schatz, das Gefangensein Leonards zu begreifen. Eine wirklich unglaublicher Filmmoment. Mein Lieblingszitat als Dokument der Standhaftigkeit des Wissenschaftlers: "Ich würde Ihnen zustimmen, wenn Sie recht hätten."

Schnipsel fünfundsechzig: Menetekel

Foto: Wolfgang SauberGüstrow Gertrudenkapelle - Barlachsammlung Lesender Klosterschüler 2, neuer Zuschnitt (CC BY-SA 4.0).

Die Wand als Sinnträger für Botschaften ist tatsächlich sehr alt. Auf das Menetekel - die Botschaft Gottes - wartet Pfarrer Helander in Alfred Anderschs "Sansibar oder der letzte Grund" vergebens. Auch ein Bild, das sich mir ins Lesegedächtnis eingebrannt hat. Der Junge wird den Weg übers Meer gehen, um eine Skulptur zu retten, aber zurückkehren ins Land der Nationalsozialisten. "Die Deutschstunde" von Siegfried Lenz wird eine andere Konstellation zeigen, das gemeinsame Motiv erkenne ich beim Lesen wieder. Auch hier brennt sich etwas ein. Den lesenden Klosterschüler Barlachs habe ich mir noch nicht angeschaut, aber in der Elisabethkirche in Marburg finde ich ein Kruzifix Ernst Barlachs. Bilder Emil Noldes habe ich bereist. Spannend hierzu ein Bild von Rembrandt: "Das Gastmahl des Belsazar".

Rembrandt: Das Gastmahl des Belsazar … das Menetekel erscheint (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel sechsundsechzig: Ikonografie

Vielleicht gelingt es nicht so gut, den kleinen Botschaften Gehör zu verschaffen, immer drängen sich dann doch die gewaltigen Zeichner dazwischen: Manch einer hat die Kraft, das Große darzustellen: Professor Glück stellte einst die Verbindung zu Matthias Grünewald her, in seinem Isenheimer Altar gewinnt die Bildsprache neue Ausdruckskraft, das Leiden hat im alten Holzmotiv eine neue Größe bzw. Schwere erlangt: Der Querbalken biegt sich nach unten. Das greift auch Ernst Barlach auf, zumindest zeigt der Balken seines Kruzifixus in Marburgs Elisabethkirche dieselbe Neigung.

Matthias Grünewald: Der Isenheimer Altar (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel siebenundsechzig: Bildgewalt

Ich wusste nicht, was mich auf diesem Friedhof damals mitriss. Zeit hatte man nicht viel für das Foto von einem Seitenfenster aus. Rabbi Löw liegt hier, später in der Kafka-Auseinandersetzung finde ich das Golem-Motiv. So richtig hat es nie Gewalt über mich bekommen. Auch der Lehmkoloss trägt Zeichen auf der Stirn. Das wäre eine Assoziationskette: Golem - Homunkulus - Frankenstein.

Fotos: Der jüdische Friedhof in Prag ((c) Stefan Scheffler) und rechts Mikoláš Aleš: Rabi [sic!] Loew und Golem (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel achtundsechzig: In einem alten Buche

In Ernst Stadlers Gedicht "Der Spruch" findet man die Auseinandersetzung, in die Schriftsteller miteinander treten, thematisiert. Brecht zu Mann war ein Beispiel, Eliot zu Chaucer ein anderes. Ernst Stadler schreibt: "In einem alten Buch stieß ich auf ein Wort, / Das traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort ..." Er meint einen Aphorismus von Johannes Scheffler, in dem es um das Erkennen dessen geht, was Bestand hat. Mit diesem Johannes Scheffler hätte ich gerne mal ein Wort gewechselt, als Angelus Silesius - der schlesische Engel - schrieb er:

 

Zufall und Wesen

Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht /

So faellt der Zufall weg / das Wesen das besteht.

 

Ein anderer geistreicher Sinn- und Spruchreim aus dem Cherubinischen Wandersmann lautet:

 

Ohne warumb

Die Ros' ist ohn warumb / sie bluehet weil sei bluehet /

Sie achtt nicht ihrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.

 

Dem konnte ich immer einen Sinn abgewinnen, Friedrich Nietzsche hat mich dann allerdings mit seinem 39. Aphorismus aus "Menschliches Allzumenschliches" abgehängt, den ich zu Silesius assoziiere. Die Sprache unterliege einem Irrtum, wenn sie den Baum als grün bezeichne. Eine harte Nuss. Nur der Satz: [W]eil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. [...] Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen" wollte trotzdem in der Erinnerung haften bleiben. Verworrene Nebenpfade. 

Schnipsel neunundsechzig: Der Schmerz des Vaters im Meier Helmbrecht

Der letzte Bezug zu Alfons Glück, zweimal habe ich etwas geschummelt, nicht nur der Hinweis auf den Isenheimer Altar, sondern auch auf Bölls "Wanderer kommst du nach Spa ..." sind ihm geschuldet. Ein kleiner Moment aber gehörte mir. Ich wusste, dass die Frage kommen würde: Sei denn im Meier Helmbrecht nicht eine Stelle einer Gefühlsregung des Schmerzes belegbar seitens des Vaters. Die große Szene, wenn der gestrauchelte Sohn ohne Bein und Hand und mit ausgestochenen Augen vor den Vater tritt und um Hilfe bittet, ihn dann der Vater verstößt ... sie hat die Stelle des Schmerzes, ich hatte sie glücklicherweise gefunden. Ganz gegen die Formelhaftigkeit: "swie im sin herze krachte". (Vers 1775)

Holzschnitt von Hans Schäuffelein (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel siebzig: Das Rätsel des Seelenschatzes

Vom Seelenfrieden, von der Seelenreinigung und von den nachkommenden Seelen war bereits die Rede. Am Ende seines Gedichtes "Trawerklage [sic] des verwüsteten Deutschlandes", das später den Titel "Thränen des Vaterlandes" trug, schreibt Gryphius, was grimmer als die Pest und alles andere Elend sei: "dass der Seelen-Schatz gar vielen abgezwungen". Es könnte zur Lyrik des Barock passen, im Seelenschatz die Geborgenheit im Glauben an Gott zu lesen, dieser unerschütterliche Glaube kann einem durch den Krieg verloren gehen, dieser Glaubensverlust unterscheidet sich dann in seiner Rohheit von einer religiösen Abkehr in der Folge theoretischer Zweifel z.B. in der Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem. 

Der Begriff Seelenschatz bleibt für jeden Leser und jede Leserin mit jedem Lesen immer wieder neu rätselhaft, da am Ende (des Gedichts) jedem für sich immer wieder neu abverlangt wird, zu schauen, welches Kostbarste in einem steckt, tief im Wesenskern - auch unabhängig von der Entstehungszeit des Gedichts. Das große Barock-Motiv der Vergänglichkeit mit dem zum Riff gewordenem memento mori deutet an, wann der Mensch nach seinem tiefsten Schatz beginnt Ausschau zu halten. Auch hier wieder eine letzte Zeile von Gryphius, diesmal aus "Es ist alles eitel": "Noch will, was ewig ist, kein einig [sic] Mensch betrachten!" In der Hetzte durch die Schalheit und Oberflächlichkeit so mancher Leben kommt die Reue am Ende, dann, wenn Résumée gezogen wird. August von Platen fand diese Worte:

 

Wer wusste je das Leben recht zu fassen, 

Wer hat die Hälfte nicht davon verloren

Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,

In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

(c) Stefan Scheffler