Schnipsel einundfünfzig: Im ernsten Beinhaus

Friedrich Schiller hatte im Kassengewölbe Weimars weniger Ruhe als sie sich Shakespeare in seinem Grab aufgrund seiner Fluch-Warnung vielleicht selbst geschaffen hatte. Johann Voß berichtet (unbelegt), wie sehr Goethe getrauert hat, nachdem sich seine Ahnung des Todes Friedrich Schillers bestätigt hatte. Alexander von Humboldt berichtet, wie er 1826 Schillers Schädel bei Goethe zu Gesicht bekam. Ein Blick zurück:

Sigrid Damm berichtet 2004, wie viele Jahre Schiller auf das Wahrgenommenwerden von Goethe in Weimar warten musste. Er war, als die Rückkehr Goethes aus Italien absehbar wurde, in die Nähe seines Hauses gezogen. Welche Enttäuschung bedeutete sicherlich die Meidung durch Goethe - wahr ist aber auch, dass am Ende die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller zustande kam, die große Wertschätzung und gegenseitige Befruchtung beider ist in den Briefen zwischen den Häusern belegt. Vielleicht ist es am Ende diese Wertschätzung, die Goethes Gedicht ausdrückt, die wichtiger ist als die vielen Geschichten, die immer wieder neu erzählt und aufgrund der immer neuen Facetten und neuen Erkenntnisse aufgewärmt durchs Feuilleton gejagt werden. Diese vielen Geschichten um die Störung der Totenruhe, die bis heute nicht abreißen, lassen mich an der Sinnhaftigkeit der Anekdotensammlung selbst zweifeln. Warum war ich damals als Student so fasziniert von dieser Geschichte? Goethe, der den falschen Schädel am 13. März 1826 zusammen mit den Honoratioren ans Tageslicht zu befördern glaubte. Das Platzieren des Schädels auf seinem Schreibtisch. Die Zusammenlegung beider Gebeine späterhin: Goethe und Schiller vereint. Die Überführung nach Jena in einen Luftschutzbunker während des Zweiten Weltkrieges. Dort waren die Gebeine Sarg auf Sarg aufeinandergestapelt. 1933 hatte es zwei Kränze gegeben … 1945 wohl auf Direktive Eisenhowers die Überführung der Särge zurück nach Weimar. Es war damals sicherlich einfacher, mich auf diese Spurensuche zu begeben, als die Syntax zweier Sätze des eigentlichen Gedichtes zu begreifen, um das es ging. Vielleicht gab es auch eine überhebliche Schadenfreude, hatte sich der Alte bei der Inspiration für sein Gedicht doch so geirrt …

2017 wird ein Schädel im Sarg der Fürstengruft - ja mittlerweile waren es zwei - zur Beerdigung freigegeben. 2008 hatte eine DNA-Analyse die Unechtheit beider Schädel bestätigt, wenn ich mich irre, es interessiert mich nicht mehr: Hier das Gedicht, mit dem seltsamen „Die alte Zeit gedacht ich …“, an dem ich bis heute zu knabbern habe:

 

Im ernsten Beinhaus war's, wo ich beschaute,

Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;

Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.

Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten,

Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen,

Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.

Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen,

Fragt niemand mehr, und zierlich tät'ge Glieder,

Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.

Ihr Müden also lagt vergebens nieder,

Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben

Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,

Und niemand kann die dürre Schale lieben,

Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte.

Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben,

Die heil'gen Sinn nicht jedem offenbarte,

Als ich inmitten solcher starren Menge

Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte,

Daß in des Raumes Moderkält und Enge

Ich frei und wärmefühlend mich erquickte,

Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge.

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!

Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!

Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,

Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.

Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,

Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten,

Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend

Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,

Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.

 

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,

Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?

Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,

Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.

 

Im Internet findet sich ein Bild der beiden übereinandergestapelten Särge im Bunker von Jena, es ist von Günther Beyer. Eine Büste von Gustav Eberlein zeigt ebenfalls die berühmte Szene, wie Goethe den Schädel in den Händen hält. Dieses Motiv findet man sogar als Postkarte im Online-Flohmarkt.

Abbildung aus "Die Gartenlaube 1859" (auf Wikimedia Commons, public domain).

Ein weiterer Zweifel: Wo begegnen sich Anekdoten-Sammler und Verschwörungstheoretiker? Wie nah ist ihr Terrain? Die Faszinationskraft der ungereimten Geschichte findet sich als Verführer auch im Titel und Unterthema von Henning Mankells Roman: Kennedys Hirn. Vielleicht ein unangemessener Zusammenhang.

Schnipsel zweiundfünfzig: Mythos entthront?

Im Zweifeln an den Anekdoten kam das gerade recht: Ich fand kein altes Nazi-Lesebuch, in dem das Gedicht "Loreley" von Heinrich Heine mit dem Vermerk "Unbekannter Verfasser" oder "Volksgut" gekennzeichnet war. Außerdem ist der Mythos entthront, dass man am Ende jeden Text im Internet finden kann. Selbst mit allen Suchtricks finde ich den Text von Dr. Anja Oesterhelt nicht vollständig und das de Gruyter Buch ist teuer. Die Germanistin der Universität Gießen hat eine unbequeme Wahrheit gefunden: Heine wurde nicht in Anthologien und Lesebüchern der Nazis abgedruckt und als unbekannter Verfasser aufgeführt, weil man um seine im Volk verankerte Kunst nicht herumkam - so der Mythos. Ich akzeptiere es, dass diese Vernichter auch innerhalb ihrer Logik konsequent geblieben sind. Es schmälert nicht den Rang Heinrich Heines. Ein bisschen Emotionspotential bleibt trotzdem auf der Strecke.

»Verfasser unbekannt?« Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines »Loreley«. In: Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, hg. von Stephan Pabst. Berlin, New York 2011, S. 325-357

Schnipsel dreiundfünfzig: Verbrechen des Unterrichts

Wenn ich mir die Auszüge aus der Lesefibel anschaue und mir die konkrete Buntstiftfreude des Mädchens vorstelle, das dieses Buch einmal als ihren Begleiter begriff, dann wird mein Entsetzen kein Jota kleiner als vor dem Lesen obigen Ergebnisses. Die Widerlegung des Nazi-Umgangs mit Heine, die von großen Namen tradiert wurde, schmälert auch die Leistung und den Ansatz derer nicht, die die falsche "Anekdote" für erzählenswert hielten.


Schnipsel vierundfünfzig: Vom Hinsehen

Es gab die Warnenden, diejenigen, die die Gefahr zu analysieren und einzuschätzen wussten. Joseph Roths Roman "Das Spinnennetz" aus dem Jahr 1923 dokumentiert, wie genau man die Strukturen erkennen konnte, die am Ende zur Diktatur der Nationalsozialisten führten. Auch über dieses Thema kann man nicht in Kürze schreiben, aber es gibt auch hier einen dieser Momente, einen Augenblick, der so aussagekräftig ist und als solcher den Weg in die Literatur gefunden hat - wie viele der einzelnen Todesumstände, die am Ende dieses Textes Erwähnung finden, ist auch das folgende Ereignis heute Gegenstand der Spekulation. Verschwundene Berichte, Ungreifbares, Unfassbares schaffen Räume zur Mythenbildung, aber auch zur Profilierung, wie hunderte Diagnosen über mögliche Erkrankungen Hitlers - thematisiert in wissenschaftlichen Abhandlungen oder Dokumentationsfilmen - zeigen. Mir geht es hier nicht um eine Versachlichung, sondern um mein Staunen, auch Entsetzen.

Heute fast vergessen ist der Dichter Ernst Toller. Er war Anfang der zwanziger Jahre einer der bedeutendsten Theaterschaffenden Deutschlands. Seine Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges schrie Toller aus seinen Stücken ins Publikum. 1919, nach der Teilnahme an der Münchner Räterepublik, wurde er zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die er auch absaß - anders als Hitler nach seinem Putsch, aber das ist ein anderes Thema. Ernst Toller schwieg nie. In seiner Biografie der Satz: "Wenn das Joch der Barbarei drückt, muss man kämpfen und darf nicht schweigen." Zur nervösen Erblindung Hitlers während des Ersten Weltkrieges 1918 schreibt er: "Dieser nervöse Erblindung macht mich nachdenklich. Welche Kraft muss ein Mensch haben, dass er blind werden kann vor einer Zeit, die er nicht sehen will." Genau diese Erblindung stellt Ernst Weiß 1939 ins Zentrum seines Romans "Der Augenzeuge". Ein junger Arzt befreit Hitler von seiner hysterischen Blindheit. 

Ernst Toller kämpft gegen die Nazis. 1933 äußert er sich in einem aufsehenerregenden Auftritt als Delegierter Englands beim internationalen PEN-Klub Kongress in Dubrovnik und hält der deutschen Delegation vor der Weltöffentlichkeit ihre verräterische Mittäterschaft vor. 1936/37 ist er auf einer Vortragsreise durch die USA, um über die Schrecken in Deutschland aufzuklären. 1939 scheitert ein Hilfsprogramm für die Opfer des spanischen Bürgerkriegs auf tragische Weise. Kurz vor seinem Tod noch ein Zusammentreffen mit Roosevelt, am Ende ist Toller nicht nur finanziell ruiniert. Er tötet sich am 22. Mai 1939 in New York.

Es gibt wohl das Gerücht, dass Joseph Roth, nachdem er vom Selbstmord Tollers erfahren hat, einen Zusammenbruch erleidet, von dem er sich nicht mehr erholt. Er war bereits von Krankheit gezeichnet. Roth stirbt am 25. Mai 1939. Jeder Name, den man erwähnt, bedeutet tatsächlich Millionen Namen, die man nicht erwähnt. Trotzdem noch vier Namen: Kurt Tucholsky, 21. Dezember 1935, Göteborg (Selbstmord oder falsche Eigenmedikation), Ernst Weiß, 14. Juni 1940, Paris (Selbstmord), Walter Benjamin, 27. November 1940, Portbou (Selbstmord gilt als gesicherte Todesursache) - Stefan Zweig, 23. Februar 1942, Petrópolis (Selbstmord) ...

Fotos: V.l.n.r.: Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Ernst Weiß, Walter Benjamin und Stefan Zweig (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel fünfundfünfzig: Gerhart Hauptmanns Schweigen

Einzelschicksale, so viele. Anklagen können so anmaßend sein, wenn sie aus der Ferne der Jahre heraus ausgesprochen werden. Wo hätte man selber gestanden? Wo steht man heute? Trotzdem sei daran erinnert, dass viele über das Schweigen Gerhart Hauptmanns entsetzt waren. Ein Ankläger aus dem Exil war der bedeutendste Theaterkritiker seiner Zeit: Alfred Kerr. Er schreibt 1933 in einer französischen Zeitung: "Mein alter, vormals lieber Gerhart Hauptmann, mit dem ich ein Leben lang aufs innigste verbunden war, weiß genau, dass ich aus Deutschland verbannt bin, dass jedem reichsdeutschen Blatt verboten ist, ein Wort von mir zu drucken, dass mein Leben in zwei Stücke gerissen ist - er hat noch nicht gewagt, mir eine Postkarte zu  schreiben." Weitere Sätze folgen.

Schnipsel sechsundfünfzig: "Seien Sie trotzdem vorsichtig"

Am 10. Mai 1933 wurden die Besten Verlesen - das Beste, das die deutschsprachige Literatur zu bieten hatte. Anna Seghers, Erich Maria Remarque, Heinrich Mann und Thomas Mann, Sigmund Freud, Ernst Toller, auch Erich Kästner. Die Rede Goebbels wurde die Brandrede genannt. Dann die blecherne Stimme der Hetze: "Ich übergebe den Flammen die Schriften von ...": https://www.youtube.com/watch?v=o7vu__LY_M8

Ähnlich visionär wie Joseph Roths "Das Spinnennetz" wählt Erich Kästner für seinen 1931 erschienenen Roman "Fabian" die Kulisse des Aufstiegs der Nationalsozialisten als Hintergrund. Über Erich Kästner wurde ein Berufsverbot verhängt. Der Autor von "Emil und die Detektive" musste sich später zum Teil rechtfertigen, warum er nicht ins Exil gegangen war. Dazu weiß ich zu wenig. Seine Bücher werden wegen "gesinnungslosem Verrat“ ins Feuer geworfen, er ist in der Liga der geadelten Denker. Das Ende des Romans "Fabian", der den Untertitel "Die Geschichte eines Moralisten" trägt, habe ich lange Zeit mit einem Berliner Witz überblendet. Um einen Ertrinkenden zu retten, springt der Nichtschwimmer Fabian in Kästners Roman ins Wasser und ertrinkt, während der zu rettende Junge ans Ufer schwimmt. In einem Berliner Witz rettet ein Unbekannter Goebbels, der im Wannsee eingebrochen ist. Goebbels gewährt Belohnung, der Retter solle sie sich auswählen. Was wird man sich wohl als Wunsch ausbedingen, wenn die Freunde erfahren könnten, dass man Goebbels gerettet habe. "Erzählen Sie’s bitte nicht weiter." Das Erzählen dieses Witzes wäre wohl einem Todesurteil gleichgekommen. Ausgerechnet Goebbels erteilte die Sondergenehmigung, damit der unter Berufsverbot stehende Schriftsteller Erich Kästner das Drehbuch für den Film "Münchhausen" schreiben durfte. Diesmal ist das Verschweigen des Autors verifiziert: Weder der Name Kästner noch sein Pseudonym Berthold Bürger durften im Abspann auftauchen. In den Dialogen des Films findet sich wohl der Satz: "Seien Sie trotzdem vorsichtig."

Foto rechts: Erich Kästner (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel siebenundfünfzig: Brecht über Mann

Ausgerechnet Thomas Manns Roman "Buddenbrooks" habe ich wohl öfters gelesen als alle anderen Romane. Wenn Thomas Mann in seiner Erzählung "Herr und Hund" den Köter durch den Park jagt, bin ich fasziniert von der größten Lebendigkeit der Kreatur, die Prosa in Köpfen erzeugen kann. Näher ist mir von der Haltung die Szene Heinrich Manns, wenn er den Untertanen neben der Kutsche des Kaisers unterwürfigst herhecheln lässt. (Dr. Kane wies uns auf die Erwähnung des Ohrenleidens hin gleich in den ersten Sätzen.) Beide Mann Brüder wurden symbolisch auf den literarischen Scheiterhaufen der Nazis geworfen. Die Debatte über den Auftrag und die Verantwortung von Literatur unterscheidet sich sicherlich vor den Hintergründen ihrer Entstehungsgeschichte. Der erste Stein ist auch in retrospect schnell in der Hand. Vielleicht ist mir die Aussage Brechts als Mahnung trotz aller Wertschätzung für den Autor des Bürgerkonflikts nie aus dem Sinn gekommen, auf die Professor Glück uns hinwies:

"Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen. Was er (für Geld) da spricht, ist gut gesprochen. Was er (umsonst) verschweigt, die Wahrheit wär's gewesen. Ich sag der Mann ist blind, und nicht bestochen." (1931)

Links: Heinrich und Thomas Mann (auf Wikimedia Commons, public domain). Mitte und rechts: Mit einstiger freundlicher Genehmigung für eine verlängerte Veröffentlichung der DEFA-Stiftung Berlin, vielen Dank Frau Söhner - mittlerweile verfremdet als Platzhalter.

Schnipsel achtundfünfzig: Die Kränkungen

Das Studium in England lehrte, dass man über Sigmund Freud etwas unbefangener schreiben kann, da der Kritik-Reflex weniger ausgeprägt ist bzw. die Wertschätzung andauert. Die Diskreditierungsversuche gegenüber Freud mögen sich aufgrund mangelnder Aufrichtigkeit seinerseits oder vorhandener Eitelkeit seinerseits oder vorhandener neuerer Erkenntnisse unsererseits in einen Rezeptionsautomatismus verwandelt haben, trotzdem gilt, dass die Texte Freuds einen Wert über die Kritikerlaune hinaus haben, wenn man Muße hat, sie zu lesen und ggf. gewillt ist, die fleckigeren Charakteranteile nicht dazu zu benutzen, das Werk bequem zu schmälern. Seltsamerweise assoziiere ich mit diesem Freud-Rezeptions-Reflex auch den Hermann-Hesse-Reflex, das ist aber sicherlich ein anderes Thema. Vielleicht für die Kritik zu einfach gedacht, für das Format der Kürze gut geeignet: Die drei Freudschen Kränkungen, ich wäre nie alleine auf einen solchen Gedanken gekommen: Erste Kränkung: kosmologisch, Kopernikus: Ich wohne nicht im Zentrum dessen, was man Welt nennt. - Zweite Kränkung: biologisch, Darwin: Ich bin Teil der Evolution, nicht als Krone gedacht. - Dritte Kränkung: psychologisch, Freund himself: Ich bin nicht Herr im eigenen Haus. 

Wenn man Kinder vor ihrem neunten Lebensjahr fragt, wer die wichtigste Person auf der Welt ist, bekommt man eine ungefilterte Antwort, ab der fünften Klasse etwa, schmuggeln sich schnell amerikanische Präsidenten oder Bundeskanzler in die Rangfolge. Wenn man Kindern von ca. elf oder zwölf Jahren sagt, dass die wichtigste Person von der Weltsprache großgeschrieben wird, fällt ihnen die wichtigste Person auf der Erde wieder ein. Erst wenn man Kinder hat, splittet sich diese Wertung übrigens zurecht auf und spaltet sich ab ... 

Foto: Sigmund Freud (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel neunundfünfzig: Hauptmanns Weber

Foto: Gerhart Hauptmann (auf Wikimedia Commons, public domain).

Der erste Stein ist nicht geworfen. Gerhart Hauptmanns sozialkritisches Theaterstück "Die Weber" bringt die Misere der Ausbeutung von Arbeitern vor dem Hintergrund der Ansätze miniglobalisierter Arbeitsbedingungen im Zuge des Fahrwassers der so genannten industriellen Revolution auf die Bühne. Unvergessen der Moment, wenn ein Hungernder wütend wird über die tragische Tatsache, dass er das erste Fleisch auskotzen musste, das er seit langer Zeit zu essen bekam, weil der Magen es nicht mehr vertrug. Die Milieuschilderungen der Wohnverhältnisse in den Mietskasernen Berlins aus dem Stück "Die Ratten" sind mir bereits als Schüler in die Gehirnbereiche abgespeichert worden, die überlebt haben in ihrem Wichtigkeitsanspruch. Der Polizeipräsident erlässt ein Aufführungsverbot, das Oberverwaltungsgericht hebt es auf, der Kaiser kündigt seine Loge, der Höhepunkt der Wirkungsgeschichte des Stücks "Die Weber" 1895. Das Entsetzen über das Schweigen war so groß, weil der Mut bis dahin so enorm gewesen war. Das Schweigen ist kein Schweigen einer mitläuferischen Seele gewesen. 1845 bereits schrieb Heinrich Heine sein Gedicht: "Die schlesischen Weber", Auszug erste Strophe:

Im düstern Auge keine Träne,

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

Deutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch -

Wir weben, wir weben!

Schnipsel sechzig: kotzen und fressen

Der Ausspruch, dass er nicht so viel essen könne, wie er kotzen möchte, ist von Max Liebermann überliefert angesichts des Nazi-Fackelzuges 1933. Zu Liebermann findet man eine kleine Zeichnung auf Wikimedia.Commons von Heinrich Zille.

Heinrich Zilles Zeichnung von Max Liebermann (auf: Wikimedia Commons, public domain).