Schnipsel einundvierzig: Georg Büchner

Ich dachte immer, Georg Büchner sei ein zerbrechlicher Mensch gewesen. Schnelle Rückschlüsse. Die ersten Texte, die ich als Schüler las, wirkten seltsam brüchig, Woyzeck verschmolz mit dem Namen Büchner, dann die Zeichnungen auf Schulbuchausgaben ... das Thema der medizinischen Doktorarbeit: das Nervensystem von Barben, schließlich die Tatsache des frühen Todes mit 23. Heute glaube ich, dass Büchner ein zäher Bursche war, je mehr ich von ihm lese, umso stärker überträgt sich sein Lebenswille und seine Kraft. Ich erkenne ein Eingreifen in die Welt, seine Vielfältigkeit der Tätigkeit, seinen Eifer, Dinge begreifen zu wollen, genau zu sezieren.

Der Steckbrief, mit dem er gesucht wurde, sagt:

Hautfarbe: frisch

Statur: kräftig, schlank.

Wenn ich auf dem Weg zur Schule an der Badenburg vorbeiradle, sehe ich ihn sitzen und am Hessichen Landboten arbeiten. Ich stelle mir die Flucht zurück nach Strasbourg vor, Gespräche mit seiner Verlobten Wilhelmine Jaeglé. Er schreibt, studiert, gründet eine Gießener Gesellschaft der Menschenrechte, lässt den revolutionären Aufruf drucken und verbreiten … er liebt. Welche Energie. Selbst die Barben haben sich mir später erschlossen. Es ist ihm nicht genug, zu dichten, die Dramenkunst zu revolutionieren, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren und die Konsequenzen aus den Schlussfolgerungen zu ziehen, auch beim Studium für den Broterwerb, der Medizin, ist es das genaue Hinschauen, das Nervensystem zu erkunden, nichts Geringeres auch hier.

Man findet die Information, dass sich Georg Büchner wahrscheinlich beim Sezieren mit dem tödlichen Typhuserreger infiziert hat. Ca. drei Wochen vor seinem Tod schreibt er an Wilhelmine Jaeglé: "Ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund wie je." Man kann die Gesellschaftskritik aus Büchners Briefen sammeln - seine Wachsamkeit, als er von weiteren Verhaftungen an Gießenern Studenten hört - man kann nach seinem politischen oder künstlerischen Selbstverständnis forschen, nach Äußerungen seiner Zuneigung zur Familie oder Braut - immer findet man Vitalität. Bereits mit 18 war Büchner das erste Mal in Strasbourg, um sein Medizinstudium zu beginnen.

In einem Brief, ca. einen Monat nach seiner Ankunft verfasst, schildert er die Ankunft eines polnischen Generals und Freiheitskämpfers in Strasbourg. Ein wachhabender Offizier versperrt den Studenten, die mit einer schwarzen Fahne vor die Stadt ziehen wollen, den Weg, er verwehrt den Durchgang … "Doch wir brachen mit Gewalt durch und stellten uns drei- bis vierhundert Mann stark an der großen Rheinbrücke auf." Im letzten und im ersten Brief dieser Wille zur Tat und zum Leben. Schade, dass fatalerweise immer nur dieser eine, andere Brief thematisiert wird. Dazu hier nicht mehr. Professor Glück hat auf Georg Lukács Untersuchung zur faschistischen Verfälschung Büchners hingewiesen, seinen Kollegen Professor Dedner kann man dazu in einem Interview hören und sehen: https://www.youtube.com/watch?v=Oft2rNZLmfA

Die Bilder zeigen die Kirche Saint Guillaume (Wilhelm), in der Johann Jakob Jaeglé in Strasbourg predigte und in deren Nähe Büchner wohnte, dann die Pfarrerstochter kennen lernte. Die kleine Tafel an der Kirche suchte ich einmal vergeblich, aber auch hier gibt es eine gute Seite mit sehr würdigenden Worten der Erinnerung: http://geschwisterbuechner.de/2013/12/13/en-goutant-les-souvernirs-doux-de-strasbourg/

Büchner-Gedenken in Strasbourg, wie mir mittlerweile Herr Brunner, Leiter des Büchnerhauses in Goddelau, mitteilte, hängt die Plakette nicht an der Kirche, sondern "um die Ecke" am Eingang des Pfarrhauses, etwa an der Stelle, an der das Haus stand, in dem Büchner in Strasbourg zur Untermiete wohnte. Der Hinweis und Link auf den Blog "Geschwisterbüchner.de" oben hat sich interessanterweise als ein Hinweis auf Herrn Brunner hingewiesen, der eben diesen Blog betreibt. Mehr dazu im späteren Schnipsel 161.

Fotos: (c) Stefan Scheffler

Schnipsel zweiundvierzig: Donnerworte

Selbst Faust wird von einem bezwungen, in Vers 622 sagt er: "Ein Donnerwort hat mich hinweggerafft." Das Pathos hat schon Kraft, wenn es auf nicht ganz taube Ohren trifft. Büchner schafft so ein Donnerwort im Woyzeck, wenn dieser dem Hauptmann offenbart: "Wir arme Leut [...] Ich glaub', wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen." Andreas Gryphius hat die barocke Wucht des Wortes beherrscht wie kaum ein zweiter. "Die Kirch ist umgekehret" - so heißt es in "Thränen des Vaterlands". Wenn sich ein mächtiger Ort verkehrt, wenn eine ganze Perspektive auf den Kopf gestellt wird, lässt die Wortgewalt die Erde beben. Im Gedicht "Abend" bewegt sich nicht nur ein ganzer Ort in der perspektivischen Umkehr, es ist ein ganzer Topos. Es gibt die leichten Allgemeinplätze, denen der Makel der Trivialität anhaftet oder die manipulative Kraft des abgekürzten Denkens wie im Beispiel des abgegriffenen, als brüchig entlarvten Bildes, wonach Menschen alle im gleichen Boot säßen. Herr Glück zweifelte an der Richtigkeit des Bildes, da er annahm, dass die im Boot unten die Aussage, die Lage sei für alle gleich, sicherlich anders bewerten würden als diejenigen auf dem Oberdeck. Der Topos der Bootsreise ist sehr alt und fest verankert. Herr Glück wählt ihn, wenn er Woyzeck in seiner schizophrenen Erkrankung begreift. Woyzeck sei nicht desorientiert, sondern in einem Stadium der akuten Psychose. Der Unterschied sei zu vergleichen mit einem Boot, das auf See die Orientierung verloren habe, und einem Boot, dem auf hoher See der Mast brenne. Sinngewaltig. Der unausweichliche Tod in Gryphius Gedicht "Abend" findet folgendes Bild: "Der port [sic] naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn." Der Tod naht, der Hafen bewegt sich auf den Menschen zu.

Alfred Böcklin: Die Toteninsel III, Alte Nationalgalerie Berlin (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel dreiundvierzig: Die rostige Schere des Schakals

Erneut ein Glück Schnipsel: Der Moment, wenn das Referat gehalten war, war immer die beste Zeit. Und die besten Seminare waren die, während derer man nicht auf die Uhr geschaut hat; und diese Seminare fand ich bei Glück. Manchmal kam es am Ende eines Referats zu einem Glück Moment, und wenn wir Studenten dann aus dem Raum gingen, sagte manchmal selbst ein Kritiker des Prof: "Jetzt weiß ich wieder, warum ..."

In der Erzählung Kafkas gerät ein Reisender in den uralten Konflikt zwischen Schakalen und Arabern. Die Schakale wollen den Europäer für sich gewinnen, schmeicheln ihm, dem angekündigten Retter. Dem Reisenden wird mit der Bitte, in den Kampf zu ziehen, auch das Werkzeug, die Waffe zur Überwindung des Erzfeindes überreicht: Im Eckzahn eines Schakals hängt eine rostige Schere ...

Alfons Glück: "Die Schere ist ein Symbol der Hoffnung, die das Scheitern schon in sich trägt." Kein Ton mehr im Raum. Dann war das Seminar zu Ende. 

Foto (c) Stefan Scheffler

Schnipsel vierundvierzig: Joyce's gigantic chapter

(c) Stefan Scheffler

Um Joyce in Dublin zu finden, muss man manchmal nur wissen, wohin sich der Blick richten sollte. Im Foto oben war es der gewaltige Hund an der Ecke. Ich kenne mich nicht gut genug mit Hunderassen aus, um sagen zu können, ob es der Hund des Citizen sein könnte, dessen Wut sich im 12. Kapitel von Ulysses ins Unermessliche steigert, aber die Assoziation war da.

Über ein gewaltiges Buch wie Ulysses wenig zu schreiben, ist schwer, als Beispiel für die meisterliche Fabulierfreude nur ein Satz: "Horseness is the whatness of allhorse." Dann das 12. Kapitel: "Zyklopen" - dem Organ "Muskeln" zugeordnet und den Farben Grau und Blau. Die Eruption, die Leopold Bloom auslöst, - dieser Mann, der in kein Raster passt, der dazu prädestiniert zu sein scheint, Opfer süffisanter Anspielungen aufgrund des Ehebruchs seiner Frau zu werden, Opfer auch antisemitischer Sticheleien wegen seines jüdischen Hintergrunds - ist gewaltig (das zweite Mal dasselbe Adjektiv). Dieser unscheinbare Mensch mit seiner Kartoffel in der Hosentasche reizt den großmäuligen Bürger, The Citizen, Prototyp des globalen nationalistischen Chauvinisten mit einem Satz - immer die geschenkte brennende Zigarre vor dem Auge dieses Zyklopen herumfuchtelnd -, so dass der Wutanfall zum Donnerwetter wird. Er wird über Seiten feinster Sprachakrobatik zelebriert, selbst Giant's Causeway wackelt, soweit ich mich entsinne. Am Ende wird ihm, nein kein Felsen hinterhergeworfen, sondern eine Keksdose: "By Jesus, I'll crucify him so I will. Give us that biscuitbox here." - Dabei hatte doch Bloom nur bescheiden darauf aufmerksam gemacht, dass eben dieser Jesus auch Jude war ... Eigentlich ist der Wesenskern von Bloom seine Freundlichkeit, glaube ich.

Schnipsel fünfundvierzig: Herr Tur Tur

Die kosmische Verbindung des Großen und Kleinen in Harmonie ist ein Topos. Die Sphärenmusik der Planeten und das rastlose Surren der kleinsten Teilchen. Es gibt einen Überwinder der Perspektivgesetze, einen Pendler zwischen den Welten, den Scheinriesen aus Michael Endes Jim Knopf: Herrn Tur Tur. Einsam ist der in der Ferne Große, glücklich, wenn er in der Begegnung mit mutigen Menschen auf "NORMAL"größe schrumpft. Er ist ein großer Sympathieträger, ein freundlicher.

Mit freundlicher Copyright-Genehmigung © der Augsburger Puppenkiste (R) - danke Urmel!

Schnipsel sechsundvierzig: Asterix meets Dante - oder: "Der kleinen Dinge Riese"

Keines der Bücher auf dem Foto oben, die einmal mit größter Präzision und höchster Schärfentiefe in eine Kamera gebannt wurden, habe ich gelesen. Sie gehören Herrn Schneider, dem Bändiger von Tatters aus Schnipsel sechs, der einmal mit den Büchern im Schlepptau bei mir eintraf. Herr Schneider ist auch ein Wanderer zwischen Makro- und Mikrokosmos. Wie Herr Tur Tur ist er auf den ersten Blick ein Riese, und riesengroß ist seine Belesenheit und seine Zuneigung - immer nach der Zuneigung zu seiner Familie - zu den Büchern. Er liest aus Überzeugung und so findet sich in einem großen Folianten der kleine Herr Asterix (natürlich mit seinem großen Freund Herrn Obelix) neben einem kleineren Format, das nichts weniger als die göttliche Komödie selbst beherbergt. Proust ist auf der Suche und wird gelesen. Und zu Proust kennt Herr Schneider auch die (hier sehr frei erzählte) Anekdote - denn auch er sammelt Schnipsel: Sein Proust und mein Joyce saßen wohl gemeinsam in einer Taverne und bekamen sich derart in die Haare, dass es nur so krachte. Es ging wohl auch darum, wer die Zeche bezahlt - aus ähnlichem Konfliktfall nur in seiner Umkehr musste ich einmal Abbitte auf einem Pilgerberg leisten ... vielleicht ging es auch nur um Trüffel, es war jedenfalls ein peinlicher Moment (vgl. Schnipsel neunundvierzig).

Herr Schneider sammelt die kleinen Dinge, seine Sammlung skurriler Alltagsgegenstände bewahrt die einstigen Helfer eifriger Hände vor dem Vergessen und in den Händen manch eines älteren Menschen in Marburg hilft die Haptik und Funktionalitätsprüfung der "Dings vom Dache" diesen Menschen, da dem Vergessen in ihren Köpfen eine engagierte Hürde in den Weg gestellt wird. Der Unterschied zu Herrn Tur Tur übrigens ist, dass Herr Schneider auch auf den zweiten Blick ein Riese mit fast 2,98 m bleibt, glaub ich.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel siebenundvierzig: Titanenbegegnung

Um mit dem Ende anzufangen: Wenn der Erdgeist Faust mit den Worten "Du gleichst dem Geist, den du begreifst, [n]icht mir" in die Schranken weist, ist ein Großteil des Funkenflugs dieser Szene vorbei. Spannend fand ich immer den Anfang und noch heute freue ich mich jedes Mal, wenn der ruppige Erdgeist den Hörer abnimmt mit den Worten: "Wer ruft mir?" - Ein Preuße also, die haben ja mit der Gigantomanie so ihre Erfahrungen gemacht späterhin. Auch findet sich eine interessante Zeichnung gemeinfrei im Netz: Goethes Skizze des Auftritts des Erdgeistes.

Goethes Zeichnung des Erdgeistes (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel achtundvierzig: Siebenmeilenstiefel

Ein früher Vermerk, einer meiner ersten Randnotizen in einer eigenen Lektüre: Wir hatten in der Schule gerade Peter Schlemihl gelesen und ich bin mit meiner Interpretation grandios vor meiner Deutschlehrerin Frau Bremer gescheitert, die standhaft blieb und mir - wie ich heute begriffen habe - beibrachte, dass man sich nicht allzu früh allzu eng auf den einen Abweg begeben sollte. (Selbst nach vielen Jahren seither glaube ich allerdings, dass ich an manch anderer Sichtweise zu anderen Texten bis heute festhalte, auch wenn sie damals auf Gegenwind traf - das Erfrischende war damals, dass man sich über solche Themen trefflich streiten konnte. Das ist ein anderes Thema.) Irgendwann las ich Heines Harzreise, in ihr das Gedicht:

 

Der Brocken

 

Heller wird es schon im Osten
Durch der Sonne kleines Glimmen,
Weit und breit die Bergesgipfel
In dem Nebelmeere schwimmen.

Hätt ich Siebenmeilenstiefel,
Lief ich mit der Hast des Windes
Über jene Bergesgipfel ...

 

Peter Schlemihls Siebenmeilenstiefel waren während der Lektüre fast ein sinnliches Erlebnis - das Motiv des Teufelsbundes hatte ich bis vor kurzem fast vergessen - und nun das gleiche Motiv, das Schreiten über Meilen hinweg, bis auf den anderen Hügel. Gesehen hatte ich solche Nebelgipfel schon. Seit diesem Leseerlebnis kritzele ich wild in Büchern herum, in der Hoffnung, keine Verbindung zu vergessen ... ein analoges Netzwerk. Irgendwann sah ich das Bild von Caspar David Friedrich in Hamburg: "Wanderer über dem Nebelmeer".

Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel neunundvierzig: Begegnung relativiert

Die Begegnungsanekdote zwischen Joyce und Proust ist im 46. Schnipsel etwas dem Gedankenfluss angepasst. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sie aus der graphic novel von Alfonso Zapico gespeist wurde, hierzu findet sich auch eine Rezension auf zeit.de: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-03/james-joyce-dubliner-comic

Der Kern der Anekdote ist also weder der Rechnungsstreit noch die Taverne ... 

Schnipsel fünfzig:  Novalis II

Nur als Nachtrag zu Nummer 30: Eine weitere filmische Umsetzung des Projekts "Lyrik & Musik" zu Novalis "Hymnen an die Nacht" findet sich ebenfalls im Netz: https://www.youtube.com/watch?v=HlyYMhjrumg