Schnipsel einundachtzig: The Ghost of Hamlet's Father

(c) Stefan Scheffler

Wenn man dieses "To be, or not to be" in eine Suchmaschine tippt und sich die Bilder anzeigen lässt, wird kaum eines ohne Schädel zu sehen sein. Noch hält er ihn aber nicht in der Hand, der dänische Prinz in III-1, wenn er seine Frage fragt und daran anschließt:

 

Whether 't is nobler in the mind to suffer

The slings and arrows of outrageous fortune,

Or to take arms against a sea of troubles,

And by opposing end them. To die, to sleep -

No more ... 

 

Erdulden oder kämpfen? Vor dem Gesetz oder durch das Stadttor? ... aber dies ist eine andere Geschichte. Erst in V-1 auf dem Friedhof vor dem ausgehobenen Grab und den Späßen der Totengräber nimmt Hamlet den Schädel in die Hand. Zuvor aber steht der Satz, den ich als Überleitung zum Thema dieses kleinen Schnipsels brauche. Hamlet wundert sich, dass der Totengäber singt: "Has this fellow no feeling of his business that a sings in grave-making?" Es ist die Antwort von Horatio, die mich aufhorchen lässt: "Custom hath made it in him a property of easiness." Gewohnheit stumpft ab. 

Von den alten Handbüchern bis zu den großen online Enzyklopädien - auch der Britannica - findet man (zwar stets vorsichtig formuliert) immer die gleichen Verharmlosungen. Der Geist sei ein elisabethanisches, unspektakuläres, bekanntes, häufig vorkommendes, oft überinterpretiertes, schon aus älteren Quellen überliefertes, von Kyd aus dem Ur-Hamlet entnommenes (immer der gleiche Verweis, immer der gleiche Hinweis, dass dieser Ur-Hamlet nicht überliefert ist) Motiv. Im deutschen wie im englischen Lektüreschlüssel die gleichen Sätze. Nüchtern, sachlich liest es sich, wenn der Interpretationshelfer lässig und sich etwas überlegen fühlend Sachlichkeit einfordert und am Ende den Geist zu dem macht, was man schnell verstehen kann: Er hat die Funktion, die Rachetragödie auf den Weg zu bringen, treibt den Konflikt der Tragödie an (und noch einiges Kluges, Handlungsmotivierendes oder tragisch Verzwicktes mehr). Er ist Bote des Guten oder des Bösen, darf Hamlet sich also in die Schuld verstricken, sei die Frage, um die es gehe.

Ein tatsächlich wichtiger Hinweis: Den Königsmord auf den Weg bringen heißt, ein elisabethanisches gottgegebenes Konstrukt in den Grundfesten zu erschüttern. Ein netter Hinweis: Warum sehen Hamlets Freunde und Hamlet den Geist, aber nicht seine Mutter? Über alles wurde bereits nachgeforscht: Die Geister dieser Zeit - das ist bekanntes Wissen - konnten sich aussuchen, wer sie sehen durfte - na dann! Wie so häufig finde ich, dass man auf viele kluge Erkenntnisse, auf ein Stück persönliches Begreifen verzichten würde, wenn man immer nur das magermilchige, vom Pathos befreite, entkoffeinierte Wissen der Deutungreise mahnend als Proviant mitgibt. Auf welches Festmahl mancher Erkenntnis müsste man verzichten. (Bilder von Türstehern in Prag helfen bei Kafkas Parabel im Übrigen auch nur bedingt weiter.) 

Welche kalorienreiche, feiste Frage: Wer ist Hamlets Geist. "Stand, and unfold yourself." ... dann erscheint er noch einmal und wird in wunderschöne, flüchtige, federleichte Sprache zu bannen versucht, die seine Nichtgreifbarkeit als wichtiges Wesensmerkmal zum Ausdruck bringt, bevor der Geist sich erneut dünnemacht:

'T is here!

'T is here!

'T is gone!

Exit GHOST. 

 

Ich glaube, wenn ich auf dem Weg gewesen wäre, der bekannteste Dichter der Welt zu werden, hätte ich vermutet, dass ich Sachen ausdrücken kann, die als tiefe Wahrheiten den Menschen mitteilungswürdig erschienen, lange bevor es vielleicht dafür einen Begriff, eine Formel, eine 'wissenschaftliche' Erkenntnis gab. Vielleicht war es Zufall - oder Fortunas Rad ... aber nur der Geist von Hamlets Vater hat überlebt, jedes Wort über eine vermutete Vorlage durch Senecas Dramen oder einen vermeintlichen Ur-Hamlet von Thomas Kyd ist seltsam unwichtig in den Bereichen, wo die Auseinandersetzung mit Literatur anfängt Spaß zu machen und Tiefe zu gewinnen. Hamlets Vater gewinnt durch die Begegnung Macht über seinen Sohn. Sein Auftrag, den Mord und den Ehebruch zu rächen, führt Hamlet in einen tiefen Konflikt, da ihm eigenständig moralische Bedenken kommen. Hamlet ist noch ein unfertiger Mensch - man kann ihn einem bestimmten Wesenstypus zuordnen, der allerdings nicht auf die Enge der in der elisabethanischen Zeit vorherrschenden Begrifflichkeit stecken bleiben muss. Er zaudert, wütet, stürzt Menschen, die ihm am nächsten stehen, ins Unglück. Das Rumoren in ihm hinterlässt am Ende eine Bühne voller Leichen - ein neuer König von außen muss die Trümmer des zerstörten Gefüges am Ende übernehmen und zu einem Neuanfang führen. Warum überlebt der kleine Held mit der Ikonografie des Schädel-in-der-Handhaltens bis heute? Er ist Träger ungesunder Loyalitätsbindungen, das Wissen eines ungesühnten Mordes lastet auf seinen Schultern, das Verhältnis zur Mutter und der oft herangezogene Komplex darf an dieser Stelle vertagt werden. Wenn ein Geist in englischen Herrenhäusern sich eingenistet hat, sind diese heimgesucht - a place is haunted by a ghost - manchmal ist die Aufgabe, diese Heimsuchungen hinter sich zu lassen. Der Geist ist aber ein sehr gutes Motiv, um die Macht einer Heimsuchung darzustellen. Eine Tragödie ist auf dem Weg ...

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel zweiundachtzig: Lessings "Wie die Alten den Tod gebildet"

Der Aufsatz, die Streitschrift Gotthold Ephraim Lessings gilt als brillante Entgegnung voller entwaffnender Argumentationskraft gegenüber Herrn Klotz, der sich bemüht hatte, Lessings Beobachtung zu entkräften, der Tod sei in der antiken Bildsprache nicht als Skelett dargestellt worden. Der Titel nennt die antiken Künstler "die Alten" - en passant nimmt Lessing sie mit dieser Formierung in die nordische Familie auf, reiht sie in die Ahnenreihe ein, die nun über die Alpen greift. Fast liebevoll vertraulich wirkt diese Anrede. Klotz gegenüber greift Lessings scharfer Verstand gnadenlos zu. Klotz hatte versucht, Lessing zu entkräften, indem er stolz präsentieren konnte, dass auch in antiker Zeit Skelette abgebildet waren. Zunächst stellt Lessing klar, dass eine Streitschrift, also Streit an sich besser sei als keine Auseinandersetzung, da am Ende mit jedem vorurteilslos geführten Ausfechten schließlich der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen sei. Dann folgt die Widerlegung - klar, mühelos:

Es ist, bei Gott, wohl eine große Freiheit, mir zu widersprechen! [...] Allerdings zwar sollte ein Widerspruch, als womit mich Herr Klotz verfolgt, in die Länge auch den gelassensten, kältesten Mann verdrießlich machen. Wenn ich sage, "Es ist noch nicht Nacht," so sagt Herr Klotz: "Aber Mittag ist doch schon längst vorbei." Wenn ich sage: "Sieben und sieben macht nicht funfzehn," so sagt er: "Aber sieben und acht macht doch funfzehn." [...] Ich bitte ihn, einen Augenblick seinen Verstand etwas mehr als sein Gedächtnis zu Rate zu ziehen.

Ich habe behauptet, daß die alten Artisten den Tod nicht als Skelett vorgestellt, und ich behaupte es noch. Aber sagen, daß die alten Artisten den Tod nicht als ein Skelett vorgestellt, heißt denn dieses von ihnen sagen, daß sie überhaupt kein Skelett vorgestellt?

Wenn man das Motiv, das Lessing geschaut und begriffen hat, einmal wahrnimmt, findet man es immer wieder. Der Tod wurde dargestellt als Bruder des Schlafes. Die Unterscheidung falle schwer, zum Beispiel brauche man manchmal den genauen Blick auf die mitgegebenen Attribute: einen Schmetterling, die umgekehrte Fackel ...

Wenn der Blick geschärft ist, sieht man, wie das Motiv durch die Jahrhunderte überlebt hat, zum Topos geworden ist. Im oben zitierten Hamlet-Monolog wird die Verbindung hergestellt: "to die, to sleep", im "Macbeth" heißt es: "Shake off this downy sleep, death's counterfeit, / And look on death itself!" Für die Kunstwissenschaftler sicher kein großer Erkenntniszugewinn, ich brauchte ein Seminar bei Prof. Ernst Theodor Voß, sonst wäre die Fülle der Querbezüge, die dieses Motiv erlaubt, an mir vorbeigegangen. Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder", auch die erfolgreiche Verfilmung kenne ich noch nicht, den Blick zurück in die Ahnenreihe sehe ich. Ein Hörgenie bringt sich durch Schlafentzug um. Die Musik, die das Motiv in den Roman trägt, ist von Johann Sebastian Bach aus der Kantate "Ich will den Kreuzstab gerne tragen" - darin: "Komm, o Tod, du Schlafes Bruder" ... 

An dieser Stelle könnte das Nachdenken bereits verdient enden, Lessing geht einen Schritt weiter. Er fragt nach dem Grund für das Ablösen der Todesdarstellung durch ein Skelett. Dem Skelett wohnt der Schrecken inne. Dem Tod Schrecken zu verleihen, ist ein Machtinstrument einer missverstandenen oder missverstehen wollenden Religiosität. Lessing:

Gleichwohl ist es gewiß, daß diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, daß auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren mußte. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte.

Die Vorstellung ergreift einen. Lessing lebt Aufbrüche, lässt Sicherheiten hinter sich, wenn sie ihn zu sehr einschränken. Das ist sicherlich ein anderes Thema. Er heiratet spät, seine Frau wird schwanger, das Kind kommt zur Welt und stirbt, kurz darauf stirbt seine Frau, Lessing stirbt im selben Jahr, 52 Jahre alt ... "so wie er gelebt, als ein Weiser, entschlossen, ruhig, voll Besinnung bis in den letzten Augenblick." (Ein Augenzeuge des Todes Daveson nach Adolf Wilhelm Ernsts Biographie.) 

John William Waterhouse: Sleep and his Half-Brother Death, 1874 - Keine Zwillinge?

(auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel dreiundachtzig: Johann Joachim Winckelmann

Über Winckelmann wäre zu viel zu schreiben, deshalb nur wenig. Er schafft es bis zum Commissario über die Altertümer des Vatikans, er begründete mit seinen Beschreibungen antiker Kunstwerke eine ganze Wissenschaft. Auch er wird durch ein Seminar von Herrn Prof. Voß in mir verewigt. Lessing bezieht sich auf ihn, den Wegbereiter. In der Biographie über Winckelmann von Wolfgang Leppmann findet man eine Episode, die den Querverweis herstellt, eigentlich einen dreifachen: Ein Zeichner Lippert in guter Anstellung in Dresden war von der Schönheit antiker Gemmen so beeindruckt, dass er "obwohl bereits Familienvater" seine Stellung kündigte, und Porzellanhändler wurde. Lessing kaufte bei ihm eine Kamee mit Skelett und Schmetterling, ließ sie sich als Ring einfassen. Lessings Ringe ... aber auch dies ist ein anderes Thema.

Winckelmann wird auf einer Reise zurück nach Deutschland erstochen, ein Kriminalfall bis heute, er hatte dem Falschen seine Kostbarkeiten gezeigt. Er war 51 Jahre alt. Sein Mörder hieß Arcangeli.

Johann Joachim Winckelmann (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel vierundachtzig: Marmorstirn

Die Reise über die Alpen war also auf den Weg gebracht. Italien als der Sehnsuchtsort für all das, was der raue Norden nicht gönnte - und der Reisenden gab es viele: Goethe, Nietzsche, Hesse, Mann. Über die ungesunden Bande beider Länder muss vielleicht auch später noch ein Wort verloren werden. Übrigens verliert der Teufel des Nordens namens Mephisto im zweiten Teil des Faust seine Kraft, wenn er auf die Reise in die südlichen Sphären geht ... ein kluger Schachzug Goethes, damit sich mythische Gestalten unterschiedlicher Regionen auf eine Begegnung einlassen können. Der Teufel einer Region verliert sein Absolutes. Zurück zur Ausgangsidee: Hugo von Hofmannsthals Gedicht "Reiselied" nimmt uns mit auf einen Weg über Hürden und Gefahren eines steinigen Weges hinweg. Eine Rettung erfolgt in Form geflügelter Wesen: "Kommen schon auf starken Schwingen / Vögel her, uns fortzutragen ..."

Vom Sehnsuchtsland, in die die Rettung erfolgt, erfahren wir: 

 

Aber unten liegt ein Land,
Früchte spiegelnd ohne Ende
In den alterslosen Seen.

Marmorstirn und Brunnenrand
Steigt aus blumigem Gelände,
Und die leichten Winde wehn.

 

Die Bändigung des Wassers als Motiv im Verlauf des Gedichtes hatte ich durch eine Schülerin erkannt, die Alterslosigkeit der Seen versuchte ich mit einem Gedicht Yvan Golls in Verbindung zu bringen - ein gescheiterter Versuch -, aber die Farbe und Oberfläche der alterslosen Seen sah ich sofort vor mir. Dann der Moment, als ich meine vereinfachende Lesart erkannte: "Marmorstein" wurde durch meine Jugend gesungen, die Stirn heißt es und an sie griff die Hand - da setzt die Ahnenreihe an, am Begreifen, am Wert des Denkens.

(c) Fotos Stefan Scheffler

Schnipsel fünfundachtzig: Die seltsamen Zufälle des Hüters des Bruders

Foto: Naturpuur: James Joyce Statue, Canale Grande, Trieste (IT), neuer Zuschnitt  (CC BY-SA 4.0)

Die Freiheit, die sich Alfonso Zapico in seiner graphic novel "James Joyce" nimmt, wurde an anderer Stelle bereits erwähnt. Auch der Satz von der Startseite muss am Ende etwas relativiert werden, ausgereist aus Italien ist Stanislaus Joyce nicht. Doch eins nach dem anderen. Stanislaus Joyce, der jüngere Bruder, schrieb eine Autobiographie mit dem Titel My Brother's Keeper. Tatsächlich forderte James Joyce ihn 1904 auf, ihm nach Triest zu folgen, wo sich dieser die Genialität fühlende Jüngere jedweder vernunftorientierten Haushaltung entzog. Alfonso Zapicos Darstellung schwelgt in den Ausschweifungen, und diese Darstellung der Joyce'schen Eskapaden trägt am Ende auch seine amüsante Skizzierung dieses Lebens. Tatsächlich scheint es, als ob das Schicksal oft Flausen im Kopf hatte ähnlich derer des chaotischen James, wenn es dem vernünftigeren der beiden seltsame Streiche spielte. Stanislaus kam nach Triest. Ob er den luftigen Rat seines Bruders befolgte, sich einfach einen Schnurrbart zuzulegen und so zu tun, als wüsste er alles, ... dann bräuchte er, sich ausschweifend gekleidet, nur noch voller Zuversicht zeigen, der Rest würde sich sicher fügen, ist wohl nicht belegt.  Während sich allerdings James in den Wirren des Kriegsbeginns 1914 und später 1915 über Wasser halten konnte, wurde der für liberale und pro-italienische Sichtweisen verdächtig gewordene Stanislaus 1915 in österreichischen Arrest genommen und er kam erst am Ende des Krieges wieder frei. Joyce war mittlerweile nach Zürich übergesiedelt. Ein Zeitsprung: 1936 schickt Stanislaus einen Brief aus Triest nach Paris, wo Joyce mittlerweile ansässig geworden war. Der Brief endet mit der Schilderung der Drohung, die der italienische Staat gegen ihn ausgesprochen hat. "If all fails I shall be accompanied to the French frontier on Saturday next." Die Ausweisung - anders als in anderen dokumentierten Zwangsausweisungen - erfolgt nicht, allerdings wird über Stanislaus ein Berufsverbot ausgesprochen. 1941, kurz vor seinem Tod, erreicht James Joyce die Nachricht, dass Stanislaus gezwungenermaßen von Triest nach Florenz zog. Eine letzte Postkarte an den Bruder folgt von James, er nennt Namen, die Stanislaus in Florenz hilfreich sein könnten, so berichtet die große Ellmann Biografie.

Immer wieder werden die Spannungen zwischen den Brüdern erwähnt, die man nachvollziehen kann, betrachtet man die gemeinsamen Triester Jahre. Nachzutragen bleiben zwei kleinere Hinweise. Der Sohn von Stanislaus, der 1943 geboren wurde, erhielt den Namen James. Bei der Allwissenden findet sich ein seltsamer Datumswirrwarr, das Hochzeitsdatum von Stanislaus und Nelly fällt auf den Todestag der Mutter von Stanislaus und James, Nelly selbst hat den gleichen Geburtstag wie James Joyce. Zufälle ... Was wäre, wenn das Schicksal diesem Stanislaus als Todesdatum den 16. Juni gegeben hätte, den Bloomsday? Das wäre wohl unvorstellbar ... 

Schnipsel sechsundachtzig: Die Macht des Wortes I

Am 18.12.2017 wird in Europa eine weitere Regierung unter Beteiligung sogenannter Rechtspopulisten gebildet. Die Proteste waren groß. Der Präsident muss seiner Rolle nachkommen. Ich kann diese Rolle, diesen Moment nicht bewerten, deshalb würdige ich die Auswahl, die eine Nachrichtenredaktion getroffen hatte. Folgende Sätze aus der kurzen, mahnenden Ansprache des Präsidenten liefen über den Sender:

"Es ist nicht gleichgültig, mit welchen Worten, mit welchen Formulierungen wir umgehen und in die Öffentlichkeit gehen. Diese Worte und Formulierungen formen unser Bewusstsein und später unsere Realität." (Alexander van der Bellen)

Triest gehörte übrigens bis 1918 zur k. und k. Monarchie, als Stanislaus Joyce in Haft kam.

Foto links: Bwag: Wien - Demo gegen Regierung Kurz am Angelobungstag, Heldenplatz (CC BY-SA 4.0); rechts Alexander van der Bellen aufgenommen von Manfred Werner (Tsui): Frauen-Fußballnationalmannschaft Österreich EM 2017 Empfang Bundespräsident 06 Alexander Van der Bellen (CC BY-SA 4.0).

Schnipsel siebenundachtzig: Das Ende des italienischen Faschismus 1945

Die Leichen Mussolinis und weiterer Funktionäre wurden auf dem Mailänder Piazzale Loreto kopfüber aufgehängt. Die Macht der Bildsprache ist gewaltig. Ein Sprengsel aus Uwe Timms "Halbschatten". Ein Bild findet sich dazu z.B. auf Wikimedia Commons. Das Bild ist aber nur in Italien gemeinfrei.

Mailand 1945, Platzhalter für ein anderes Bild ... (auf Wikimedia Commons, public domain). 

Schnipsel achtundachtzig: Die Macht umgekehrter Ikonografie

Dan Brown greift in seinen Thrillern um den Forscher Professor Langdon in die Fülle der Bilderwelt hinein, die überliefert vor unserer Nase liegt. Man muss diese Romane nicht mögen, den Momenten des Staunens kann man sich als durchschnittlich kunst- oder religionsgeschichtlich gebildeter Mensch kaum entziehen - Umberto Eco sah das wohl anders. Die Romane sind erfolgreich, sie sind reißerisch, sie sind, was sie zu sein vorgeben: Thriller. Ob man die Bildkraft religiöser Kunstwerke, Ur-Motive des Glaubens einer Weltreligion dazu benutzen darf, die Auflage zu steigern, will ich nicht beurteilen, zu sehr bin ich in dem Genuss gefangen, das, was immer schon vor meiner Nase lag, zu sehen, und kunstvoll geführte, neue Verzweigungen gezeigt zu bekommen, um zu staunen ... die Darstellung des Leides durch die Tötung von Petrus findet ein Bild: Die umgekehrte Kreuzigung. Ob diese Hinrichtungsart historisch belegt ist, häufig war oder ob Petrus in Rom überhaupt zu belegen ist usw.?, ich kann es nicht beurteilen. Wie Bilder im kollektiven Gedächtnis verankert werden, wie schnell man sie in ihrer Besonderheit verliert, weil sie sich abnutzen, finde ich erstaunlich. Wenn man nach sehr vielen Monaten an einen Ort zurückkehrt, der einmal das vertraute Zuhause war, mag man sich manchmal darüber wundern, wie seltsam sich plötzlich das Vertrauteste anfühlt, das man täglich in die Hand nahm: Der Türknauf oder die Türklinke. Am Petersdom findet sich zum Beispiel auf einem der Relieftüren das Motiv. Unter der Bezeichnung "Chorapsis, Kreuzigung von Petrus" wurde eine Fotografie von Jochen Jahnke auf Wikimedia Commons veröffentlicht, der gleichen Quelle der Darstellung der Kreuzigung von Petrus durch Michelangelo Caravaggio.

Bilder: Porte de Filarète, Vatikan (auf Wikimedia Commons,  public domain); Jochen Jahnke at German Wikipedia, F08.St-Martin de Vic.0152 (CC BY-SA 3.0 DE); Michelangelo Caravaggio: Kreuzigung von Petrus (auf Wikimedia Commons, public domain).

Schnipsel neunundachtzig: Logos - Die Macht des Wortes II

"Im Anfang war das Wort ..." - wenn sehr zum Winseln des Teufels im Pudel Faust anhebt das Johannesevangelium zu übersetzen, lässt er das Wort "Wort" für λόγος schnell hinter sich. Er bevorzugt "Sinn", dann "Kraft" - dann typisch Faust schließlich "die Tat". Auch auf die spätere Gretchenfrage weicht er aus mit der Formulierung "Name ist Schall und Rauch". Goethe äußert seine Kritik am Geschwätz mehrfach. In der Wagner-Szene wird der Uni-Sprech ausgehebelt bzw. das wortreiche Streben um der Karriere Willen. In seinem Gedicht "Als wenn das auf Namen ruhte" wird das salbadrische Ausschweifen und das Pressegerenne nach veröffentlichbarem Neuen in seiner Unerträglichkeit abgekanzelt. Das Misstrauen, wonach sich die letzten Dinge nicht mit abgegriffenen Begriffen fassen lassen, findet einen wunderschönen Vers:

 

Als wenn das auf Namen ruhte,

Was sich schweigend nur entfaltet!

 

In der mittelalterlichen Literatur gibt es den Unsagbarkeitstopos. Wenn der Schmerz zu groß, die Schönheit zu schön, wird er heranzitiert. Die Angst, "Lord Voldemort" laut über die Lippen zu äußern, ist in der magischen Welt der J.K. Rowling groß. Er wird zu "He-who-must-not-be-named". Die Assoziationskette ließe sich fortsetzen, im Kern geht es oft um die Angst, das zu verlieren, was einem Wort innewohnt und dieses wichtig macht, oder aber auch darum, dass es etwas gibt, das sich mit einem Wort nicht fassen lässt. In Wahlkampfzeiten braucht man die Verse von Hilde Domin zum Überleben:

 

Freiheit Wort

das ich aufrauhen will

ich will dich mit Glassplittern spicken

daß man dich schwer auf die Zunge nimmt

und du niemandes Ball wirst.

 

Manchmal hat man das Gefühl, es könnte zu spät sein, wenn eine Waschmittelwerbung Jedem das seine verspricht. Mein Freund Jean-Pierre würde sagen: "Ohne Worte!" Und er würde es immer zweimal sagen, beim zweiten Mal mit noch mehr Nachdruck. Irgendwo in diesen Regionen ist dann Heinrich Bölls Hörspiel "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" angesiedelt. Jener Rundfunkredakteur, der das Geschwätz nur noch ertragen kann, indem er besessen die kleinen Schnipsel Schweigen aus Tonbandaufnahmen herausschneidet und in einem Kistchen sammelt. 

Es gibt aber auch den anderen Weg, dort, wo Worte jene Kraft gewinnen und dann in der Folge nur noch Gehör finden müssen. Davon handelt dann z.B. das Gleichnis vom Säemann, in dem sich auch die Aufforderung findet: "Wer Ohren hat zu hören, der höre" ... Eine Ahnung von dieser Gewalt der Sprache findet sich in Joseph von Eichendorffs Gedicht Wünschelrute:

 

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

 

Wer an den Grenzen der Sprache zweifelt, sollte über die Floskel "mir liegt es auf der Zunge" nachdenken. Manchmal ist der Rest tatsächlich Schweigen. 

Foto: V.l.n.r.: Heinrich Böll aufgenommen von A. Biancalani (auf Wikimedia Commons, public domain);  Stolperstein für Hilde Domin, Foto von Geolina163: Stolpersteine Köln Löwenstein Riehler Straße 23 18 (CC BY-SA 4.0); rechts ein Zitat aus Paul Simons Song "Sounds of Silence" ... 

Schnipsel neunzig: Die Macht der Worte III

Bertolt Brecht: "An die Nachgeborenen" 

Auch hier geht es darum, wie Sprache - im Rahmen ihrer Möglichkeiten - wirken kann. Brecht nennt seine Zeiten finster. Ein argloses Wort sei töricht, eine glatte Stirn deute auf Unempfindlichkeit hin. Da hat sich bis heute wenig verändert. Welche künstlerische Konsequenz folgt aus dieser Erkenntnis? Brecht bleibt bescheiden, aber nicht wirkungslos:

 

Was sind das für Zeiten, wo 

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. 
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

[...]

Die Sprache verriet mich dem Schlächter. 
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden 
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.

[...]

Foto: Bert Brecht und Hanns Eisler: Bundesarchiv Bild 183-19204-2132, Berlin, Bertolt Brecht und Hanns Eisler (CC BY-SA 3.0 DE)