Schnipsel 211: Franklin Gothic Medium

Links der Blick auf die spiegelglatte Fläche des Genfer Sees von James George Oshoba: Montreux Above, neuer Zuschnitt (CC BY-SA 4.0), rechts eine arktische Sonne von Harley D. Nygren.

Steve Lutman, Dozent an der University of Kent, hielt die gängige Verwechslung zwischen Frankenstein und dem Monster für einen "Freudian slip of the tongue". Im kollektiven Missverständnis wird der Forscher Viktor Frankenstein zum Träger der Bezeichnung Monster. Es ist die Geschichte einer gescheiterten Hybris, deren Mahnungscharakter in unserer Gegenwart so augenfällig ist, dass man darüber sich kaum noch zu äußern braucht. Ich möchte nicht wissen, wie oft sich der Biologe Professor Craig Venter in seinem rastlosen Drang, künstliches Leben im Reagenzglas anzumischen, mit dem Verweis auf den unglückseligen Versuch des Forschers in Mary Shelleys Roman aus dem Jahr 1818 konfrontiert sah. Mittlerweile ist das menschliche Genom entschlüsselt, die Herstellung von Leben durch die Injektion synthetischen Erbguts eines Bakteriums in eine Zelle ist vollzogen und markiert den Weg der Möglichkeiten.

Der vollständige Titel von Shelleys Roman lautet: Frankenstein oder Der Moderne Prometheus. Sich ihm auch nur ansatzweise in seiner unglaublichen Fülle an Themen und Motiven, an Anekdoten um Entstehung und Rezeption zu nähern, würde jeglichen Rahmen sprengen, den dieses Format der Nebenpfade meiner Schnipsel vorgibt. Aber selbst die Details, auf die es sich lohnen würde, einen zweiten Blick zu werfen, scheinen in diesem Werk aus dem Füllhorn zur Verfügung gestellt worden zu sein … in jenem regnerischen Sommer 1816, als Mary Shelley sich dem Wettbewerb stellte, wer von den Vieren, der am Genfer See versammelten jugendlichen Intellektuellen, sich dem Versuch eines Schauerromans in größter Meisterhaftigkeit nähern würde.

In Gernsheim kann man für einen Moment der 18- oder 19-jährigen Mary Godwin mit wachen Sinnen nahekommen, die mit ihrer dichterischen Phantasie unserer Spezies eine nicht mehr aus dem Gedächtnis zu tilgende Vorstellung einer Horror-Gestalt gegeben hat, die an den Namen Frankenstein geknüpft ist. Diese junge Frau ist ein blitzgescheiter Spross umtriebiger Eltern, die mit ihren revolutionären Schriften, aber auch ihrer Lebensphilosophie in England für Furore gesorgt haben. In Gernsheim stand ich deshalb, weil es nicht allzu weit von meinem Heimatort entfernt liegt, trotzdem aber weit genug, als dass ich zuvor jemals von der Burg gehört hätte, die ein gutes Dutzend Kilometer entfernt liegt: Burg Frankenstein. Dieser Acker ist bereits bestellt, die Burg als möglicher Namensgeber bleibt angesichts der Kürze der Pause von Miss Godwin in Gernsheim ungeklärt bis fraglich. Am Fähranleger frage ich mich, wie die beiden jungen Menschen Mary Godwin und Percy Shelley wohl ausgesehen haben, als sie hier ihre Rheinreise in Richtung Schweiz für einen Moment unterbrachen. Mary hatte bereits eine Fehlgeburt hinter sich, ihre Zeit mit ihrem späteren Mann war von körperlicher Anziehungskraft und Schwangerschaften geprägt. Ziel der Reise ist der Genfer See, als Nachbarn und Freunde werden sie sich in der Villa Diodati einfinden bei Lord Byron, zu dem ebenfalls mehr als nur ein kurzer Text zu schreiben wäre bzw. viele lange Texte vorliegen. Ein Leben, das selbst Literatur zu sein scheint.

Wenn ich zum Frankenstein-Roman etwas schreiben würde, wäre es sicherlich über die unglaublichen Bilder der Naturbeschreibung. Der spiegelglatte Genfer See, das Gewitter über den Alpen mit seinen gewaltigen Blitzen in den Wolken der Bergkulisse oder die am Horizont kreisende Sonne des Nordpols. Den Ort, den bis dahin nur die Vorstellungskraft der Kreativen erreichte - Christoph Ransmayr war in unserer Gegenwart schließlich da und hat ihn in einem Golfballabschlag in seinem "Atlas eines ängstlichen Mannes" literarisch verarbeitet … an dieser Stelle sicherlich eine dürftige Randbemerkung. Zu schreiben wäre über das Erleben des Eismeeres, das Erleben von aus einem Nebelmeer herausragenden Gipfeln - gemalt und damit in Assoziation zu setzen zu Capar David Friedrich. Ich würde - wie wahrscheinlich viele - über die Gefahr wissenschaftlicher Hybris schreiben, über das Unglücklichsein des Monsters, das seine Bosheit begründet: "I am malicious because I am miserable" ..., über die Gesellschaftskritik in der Schilderung der Ungerechtigkeit der Besitzverhältnisse, die vom "Monster" wahrgenommen wird genauso wie über die Unerbittlichkeit der tragischen Undankbarkeit, der sich die im Buch namenlose Kreatur ausgesetzt sieht, selbst als sie nach der Errettung eines ertrinkenden Kindes aufgrund ihrer abstoßenden Erscheinung nur Abwehr und Schläge erntet. Ich würde über die Schwierigkeiten der Übersetzung nachdenken, die den Sätzen: "It was on a dreary night of November …" mit: "In einer trüben Novembernacht" oder: "… the approach of the demoniacal corpse to which I had so miserably given life" mit: "… das Herannahen der dämonischen Gestalt, der ich so stümperhaft das Leben geschenkt hatte" so schwer gerecht werden kann. Ich hätte mich vielleicht auf die moderne Erkenntnis bezogen, die aber die Handlung des Romans im 19. Jahrhundert nicht nur gebremst, sondern vielleicht die Unsterblichkeit des Motivs an sich verhindert hätte: Viktor Frankenstein, teile dein Wissen, deine Bedenken, deine Tragödie. Gemeinsame Schultern finden eine Lösung. Dein stummer Weg führt dich ins Elend und ausgezehrte Ende auf einem Polarforschungsschiff eines seelenverwandten, allerdings hehren Freaks - was das Knirschen der Planken und die nachvollziehbare Meuterei der Mannschaft nicht abfedert.

Dazu schreibe ich nichts, das Beobachtbare ist zu groß. Es ist das Vorwort von Mary Shelley, das mir hier wert ist, in all seiner Fülle freundlich-skurriler Details, nicht einfach als Geleit zurückgelassen zu werden, obwohl auch diesem Vorwort, wie ich feststellte, gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wurde und es eigentlich kein verborgener Pfad mehr ist.

In diesem Vorwort zur Ausgabe von 1831 schildert Mary Shelley die berühmte Entstehungsgeschichte des Romans als Schreibwettbewerb, den die Männer frühzeitig in Richtung Alpenwanderung verließen. Hier steht die Beschreibung des spiegelglatten Sees. Hier findet die Beschreibung der Vorstellung des Geists von Hamlets Vater ein unglaubliches Detail: "… in voller Rüstung, aber mit offenem Visier im unsteten Licht des Mondes um Mitternacht." Wenig später steht der Satz: "Erfinden besteht in der Fähigkeit, das Potential eines Stoffes zu erfassen, und in dem Talent, Gedanken zu formen und zu gestalten, die ihm entsprechen." Ein Gedanke, der eingeleitet wird mit den Sätzen:

 

Alles muss einen Anfang haben, um mit Sancho Panza zu sprechen, und dieser Anfang muss mit etwas in Zusammenhang stehen, das vorherging. Bei den Hindus wird die Welt von einem Elefanten getragen, aber sie lassen den Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Erfinden, das muss man in aller Bescheidenheit zugeben, heißt nicht, aus dem Nichts schaffen, sondern aus dem Chaos …

 

Hierzu dachte ich schreiben zu können, doch nach dem erneuten Lesen dieser Sätze, bleibe ich besser sprachlos. Das Monster verliert sich mit den Worten: "… and lost in darkness and distance."

 

Nachtrag I:

Dem Weltbild der Schöpfung auf dem Rücken der Elefanten auf dem Rücken der Schildkröte hat sich umfassend Professor Michael Mandelartz gewidmet: Man beachte das Bild des auf unscheinbaren Schildkröten ruhenden Obelisken im Boboli-Garten … Auf dem Rücken von Schildkröten oder: Die Rückkehr der Wissenschaft zum Mythos. Materialien zur Geschichte einer Anekdote (meiji.ac.jp).

 

Nachtrag II:

Elefanten garantieren ziemliche Dauer von beruhigender Kraft und Stärke - Schildkröten letztlich einen doppelten Boden unerreichbarer verlässlicher Stabilität, falls der Zweifel am Optimum einmal nagen sollte. Jedes Infragestellen erübrigt sich daraufhin. In dieses brüchige Konstrukt einer vergänglichen Ewigkeit sollte besser nicht hineingepfuscht werden, es könnte mittelfristig zur Reue führen.

Fotos v.l.n.r.: Fridtjof Nansens Nordpol-Expeditionsschiff "Fram", die Burg Frankenstein, der Rhein bei Gernsheim (beide (c) Stefan Scheffler) und die Villa Diodati von Roberto Grassi fotografiert ... hier trafen sich Mary Godwin, Percy Shelley, Lord Byron und John Polidori, der Leibarzt von Byron, dessen Beitrag zum Wettbewerb um die beste Schauergeschichte zum ersten Mal das Motiv des Vampirs literarisch bearbeitete. Bram Stokers "Dracula" brennt es 1897 ins kollektive Bildgedächtnis der Menschheit ein so wie zuvor Mary Shelleys Monster, dessen hünenhafte Gestalt sich in den Weiten des Nordpols 1816 verliert, den selbst Nansen 1896 wohl nicht erreichte ...

Schnipsel 212: Der Fahrplan des Vampirs

Fotos v. l. n. r.: Mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlags: Das Buchcover der aktuellsten deutschen Dracula Ausgabe. Sonnenuntergang und Mond (c) Stefan Scheffler

Mit den Worten "Das Buch ist eine Sensation und wird außerordentliches Aufsehen erregen" bewarb 1908 eine Leipziger Verlagsbuchhandlung die erste deutsche Dracula-Ausgabe, um weiter mitzuteilen: "Für Schwachnervige ist es jedoch keine Lektüre."

Kurzer Blick zurück: Mary Shelley schildert den Schreibwettbewerb der "trüben Novembernacht" (siehe oben 211), als sie auf die Idee ihres Frankenstein kam. Es scheint einer dieser unglaublichen literarischen Momente größter Intensität und Wirkungsdichte gewesen zu sein, bedenkt man, dass in dieser Nacht der Anekdote nach Lord Byrons Leibarzt John Polidori mit seiner literarischen Teilnahme am Wettbewerb der vier kreativen Köpfe zum ersten Mal das Vampir-Motiv ins Zentrum einer Erzählung stellen wollte, deren Skizze wohl den Titel The Vampyre trug - so in etwa lautet die Überlieferung. Bram Stoker hätte sicherlich nicht vermutet, dass es dann seine Bearbeitung des Motivs am Ende des Jahrhunderts sein würde, mit der schließlich ein literarisches Wesen in die Welt gesetzt wurde, das tatsächlich auf ewig untot - im Sinne von nie mehr aus dem menschlichen Kollektivbewusstsein zu tilgen - sein wird: Auf ewig lebendig … unpfählbar, ein Nachzehrer und Wiedergänger allererster Güte.

Nach der erneuten Lektüre des Frankenstein war meine Bewunderung für das Genre bzw. für Mary Shelley ohne Sehnsucht nach mehr, der Hunger nach tiefsinniger Schauer-Lektüre im Grunde gestillt, wäre mir da nicht das Dracula Buchcover des Reclam Verlags regelrecht ins Auge gesprungen. Dieser kleine kopfüberhängende, im Flügel-Mantel eingemummelte Vampir, dessen Blick über den Saum kaum optisch zu erschüttern vermag. Aber es ist nun einmal eines jener bildsprachlichen Kniffe, die mich bisher noch immer gefangen hat; dieses Auf-den-Kopf-gestellte lockt ungemein … ich fing an zu lesen. Ich weiß, dass ich zu den schwachnervigen Lesern zähle - um es vorwegzunehmen: Ich habe selten während einer Lektüre vor Spannung ähnlich gebibbert, der Schauer holte mich selbst in den Träumen ein.

 

Alles Schamott, vorne bis hinten, Schamott und sonst gar nix. (Oder im Original: "It be all fool-talk, lock, stock, and barrel, that’s what it be and nowt else.") Diese ganzen verwunschenen Seelen und Gespenster und Wiedergänger und Erscheinungen und Buhmänner bringen vielleicht Blagen und nervenschwache Weiber aus’m Häuschen, die wimmern dann wie gewünscht, aber unsereinen doch nicht. Alles Humbug.

 

So die Worte des halsstarrigen Fischers aus Whitby zu jeglichem Grusel, aus dem sich prächtig in vielerlei Hinsicht Profit schlagen lasse bis hin zur Manipulation von leichtgläubigen Seelen … man denke hierbei vielleicht auch an den durch Spuk seine Frau erziehen wollenden Baron von Innstetten aus Theodor Fontanes Effi Briest, aber das ist eine weite Assoziation im Gedankenfeld.

Im Roman wird der Graus dem Fischer später das Leben kosten. Viele weitere Seiten später hören wir die Worte des konsultierten Arztes, und wie sich herausstellen wird Vampirjägers, Abraham van Helsings:

 

Seit Urzeiten gibt es Untote, und seit Urzeiten gibt es Leute, die ihr Wirken erforschen. Wenn ein Mensch zu einem Untoten wird, "trifftihn damit der Fluch der Immortalität, er kann nicht sterben, sondern muss durch die Jahrhunderte wandern, immer neue Opfer suchen und das Leid in der Welt vermehren.

 

In seinem klugen Nachwort der Reclam Ausgabe führt Elmar Schenkel aus, welche Erzähl- und Sagen-Traditionen Bram Stoker mit seinem Dracula Roman verknüpfte, wie sich dann wiederum aus seiner Darstellung zum Beispiel Transsilvaniens neue Kollektiv-Mythen bis heute etablierten. Von Elmar Schenkel wurde ich somit auf eine weitere Nuance eines Auf-den-Kopfstellens hingewiesen, indem er auf die Umkehrung des Motivs des Pfählens hinweist. Der rumänische Heerführer / Woiwode Vlad III gilt als Prototyp des Grafen Dracula. Dieser Vlad erlangte seinen Ruf als grausamer Herrscher insbesondere durch seine Bestrafungshinrichtungen durch Aufspießen, bei Stoker wird der Pfähler Vlad zum Gepfählten. (Ich bin mir nicht sicher ob man dies aufgrund der Schlussseiten des Romans so stehen lassen kann, hier möchte ich aber auch keine Spannung durch Vorwegnahme zerstören.) Wie dem auch sei, es ist an anderer Stelle im Roman eines der mächtigsten Bilder der Beschreibung des Grafen, das sich ebenfalls des in diesen Schnipseln so häufig erwähnten Motivs des Kopfüber bedient, um die unglaubliche Kraft des zunächst noch grauen, blutleeren Grafen Dracula zu zeigen, das für mich ewig unvergessen sein wird: Der auf der Festung gefangene englische Jurist Jonathan Harker erblickt ihn, wie er nachts mit dem Kopf nach unten, sich nur mir den Händen und Füßen ins Mauerwerk seines Schlosses klammernd, die bloße Wand hinunterklettert, sein Mantel umschließt ihn dabei bündig. (Siehe hierzu ein späteres Buchcover des Rider-Verlages am Anfang des 20. Jahrhunderts.)

Gerade die Anfangskapitel des Romans fesselten mich somit über Gebühr. Mein Eifer, das Motiv des Untoten in der Mythen- und Sagenwelt meiner Region zu finden, war geweckt. Ein so weit verbreitetes Unwesen ohne Spuren hierzulande zu haben, konnte ich mir kaum vorstellen. Tatsächlich scheint aber in meiner Heimatregion der Aberglaube der Teufelsbegegnung in vielerlei Abwandlung und Erzählgestaltung verbreiteter als der Spuk von Untoten. Selbst der Werwolf scheint - wenn auch nicht allzu oft - verbreiteter als ein vampirähnliches Wesen und sei es vielleicht nur in seiner Schnittmenge in der Märchengestalt des bösen Wolfs. Trotzdem wurde ich fündig. Es sind wenige Zeilen in einer alten Sammlung "Sagen und Aberglaube aus Hessen und Nassau", zusammengetragen und herausgegeben von Hermann von Pfitzer 1885 im Marburger Elwert-Verlag, die von einem "bewehrten Grab" berichten, aus dem sich drohend und grollend eine mit Schwert bewaffnete Hand gegen gierige Grabräuber richtet. Vielleicht hätte mich dieser Ort nicht so mächtig angezogen, doch die Flurnamen rund um Kemel, jenem Ort, der erwähnt wird, konnten düsterer nicht ihren schaurigen Ruf aussenden: Heidenrod, Wisper … Zorn. Ich fand den Ort, ich war dort mit Respekt unterwegs, fotografierte nach Bitte um Erlaubnis. Die Bilder sind die einzigen, die jemals in meiner Cloud verschwammen. Ich bin ein Mensch mit schwachen Nerven, aber oft in mutiger Begleitung ...

Im Roman nimmt der Kampf gegen den Blutsauger Fahrt auf, wenn Abraham van Helsing aus Amsterdam die Bühne betritt. In seinem schwarzen Köfferchen befindet sich die modernste Ausstattung seiner Zeit, einer rasanten Epoche, die van Helsing selbst mit folgenden Worten beschreibt: "… in unserem skeptischen und egoistischen Zeitalter."

Bram Stoker spielt meisterlich mit dem positivistischen Zweifel und der Wonne am vermeintlich irrationalen Grusel. Sein Kniff ist, die Erzählung in Form eines Brief- und Dokumenten-Romans zu verfassen, womit die Neutralität der Berichterstattung und damit eine Authentizität der Geschehnisse augenzwinkernd vorgetäuscht wird. Auch die nächste Schärfung meines Blicks verdanke ich dem Nachwort Elmar Schenkels: Die Jagd auf den Gegner findet unter Zuhilfenahme der neuesten technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften statt. In den Dokumenten, Tagebucheintragungen und Briefen findet nie eine Kopplung von Datum und Tag statt, sodass eigentlich das Jahr, in dem die Handlung stattfinden soll, nicht gefasst werden kann. Nur zu Beginn des siebenten Kapitels könnte man den 8. August mit etwas Rekonstruktionsgeschick oder -glück auf einen Dienstag datieren. Hieraus wäre das Jahr 1893 als Jahr der Handlung abzuleiten. In van Helsings besagtem Koffer finden sich elektrisch betriebene kleine Stablämpchen, mit denen es den Vampirjägern in einer düsteren Kapelle gelingt, die staubige Luft mit dünnen Lichtstrahlen zu durchleuchten, damit wäre der Roman sogar seiner Zeit voraus. Die Marke Eveready wird die erste batteriebetriebene Taschenlampe erst 1899 nach Patentierung zum Verkauf anbieten, Dracula erschien als Roman 1897.

Reisen finden flott über den Ärmelkanal statt. Ein Leser Draculas wundert sich, wie van Helsing an einem Nachmittag nach Amsterdam reisen könne, um tags drauf wieder zurück zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob es machbar war, aber wenn man lange sucht, trifft man auf einen kleinen Raddampfer namens "Ijstroom" der Holland Steamship Company, die eine Direktverbindung von London nach Amsterdam aufrechthielt. Reisende benutzen im Roman den Orientexpress, die Londoner Untergrundbahn, Schnellbote. Es werden Telegramm-Botschaften versendet, Aufzeichnungen durch Phonographen erstellt oder  lichtstarke Leuchtturmscheinwerfer in den Nebel gerichtet. Erwähnung finden Kopfhörer, Fahrräder, Molekular-Biologie, Chemie und Elektromedizin. Ein Haus, das Dracula kaufen möchte, wird ihm in Form einer Kodak-Aufnahme vorgelegt. Und wenn Shakespeares Hamlet zitiert wird, dann mit den Worten: "Schreibtafel her! Ich muss mir’s niederschreiben." Das auf den ersten Blick Überholteste in diesem Roman scheint das Frauenbild zu sein: Bis in den ritterlichen Beschützer-Duktus hinein verklärende, asexuelle, servile Weiblichkeit gebannt auf einen Damensattel oder in einen Rückzug in die Kemenate geschickt, wenn die Herren in Überzahl es für richtig erachten. Doch es gibt den Moment, da Mina von van Helsing die Zügel der Kutsche in Richtung Dracula-Schloss übernimmt und das Gefährt über die schwierig zu befahrenden Straßen Transsilvaniens lenkt, außer bei drohendem Gegenverkehr … doch schließlich auch in schneestürmiger Nacht. (Vielleicht gehen mir an dieser Stelle gerade die Gäule durch, das muss ich noch mal nachlesen.)

Sei's drum. Mir geht es um den Nebenpfad, das kleine Detail, die scheinbar achtlos geschilderte Geste, an der sich meine Lesefreude entzündet. Als zu Beginn des Romans Jonathan Harker seinen Peiniger, der ihn auf seinem Spukschloss gefangen hält, in seinen Privaträumlichkeiten antrifft, findet er ihn folgendermaßen vor:

 

Der Graf lag auf einem Sofa und blätterte in einem dicken Band – ausgerechnet in einem englischen Eisenbahnkursbuch. (Im Original: … reading, of all things in the world, an English Bradshaw’s Guide.)

 

Ein Bild, dass mich an dieser Stelle vom Gruseln ablenkte und mich mächtig, wenn auch nur flüchtig amüsierte. Erst gegen Ende zeigt sich, wie vielsagend und bedeutend diese kleine hingeworfene Geste ist bzw. von mir als solche gedeutet wird. Es wird am Ende Mina sein, deren genaue Kenntnis der Fahrpläne den gejagten Vampir in die Enge treibt. Es wird Mina sein, die sich eines messerscharfen deduktiven Verstandes bedient, der sie in die Männer-Riege ihrer Zeit z.B. eines Conan Doyle’schen Holmes (1886) oder Poirot von Agatha Christie (um 1929) einreiht, um als Frau gleichzeitig ihre ritterlichen Gefährten allesamt hinter sich zu lassen, inklusive des verbissenen Dracula.

Auch wenn es jeder kennt, hier gehört William Shakespeares Wort hin: "There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy." (Hamlet)

Ein selten gewordener Band aus dem Jahr 1885: "Sagen und Aberglaube aus Hessen und Nassau". Auf den Seiten 122f. findet sich die Geschichte "Bewehrtes Grab" aus Kemeln.

Fotos (c) Stefan Scheffler: In der Nähe von Huppert bei Kemeln bei Heidenrod, Zorn und Wisper findet sich ein keltisches Hügelgrab, wenn man danach sucht oder fragt. Vielen Dank an den netten Herrn aus Huppert, der uns auf die Spur lotste. Wir waren mit dem letzten Sonnenstrahl dort, der Mond schien bereits ...

Fotos v.l.n.r.: Die Rider Ausgabe, die das Kopfüber-Klettern zum Titelbild machte, Stokers handschriftliche Personen-Notizen, Bram Stoker 1906 und schließlich ein Bradshaw's Railway Guide aus dem Jahr 1891. Ihn könnte Graf Dracula in den Händen gehalten haben ...

Fotos v.l.n.r.: Ein Bild des Dampfers Ijstroom der Holland Steamship Copany, Seeleute im Hafen von Whitby und ein Fahrplan, der die Verbindungen des Örtchens an der Küste mit dem Rest der Welt enthält. Ihn könnte Mina studiert haben. Wer sucht, findet im großen Netz auch van Helsings Taschenlampe, wahrscheinlich ein Prototyp der Marke Eveready ... alles wegweisend.

Schnipsel 213: "Thank you! Be easy."

Alexandre Dumas, fotografiert von Étienne Carjat, und einige Degen

Wenn jemand wenig Zeit hat, lese sie das Buch nicht. Ausgemustert aufgegriffen aus einem Bibliotheksregal "Zum Mitnehmen", fand sich eine Lektüre schwer wie ein Backstein in meiner Tasche wieder und versprach Abenteuergenuss der alten Schule: Alexandre Dumas: "Die Drei Musketiere". Die inneren Bilder zu diesem Titel sind in schwarz-weiß abgespeichert und genau in diese Richtung bewegte sich auch mancher Rat verschmitzten Blicks, hier könne man doch sicherlich aus einer größeren Auswahl einen Film dem Lesefleiß von guten sechshundert Seiten vorziehen …

Wie so oft im Leben wird müßiger Fleiß fürstlich entlohnt. Aber zunächst zur Vorgeschichte dieses Textes: Mit dem Entschluss, keine Nebenpfad-Schnipsel mehr zu schreiben, da diese Leidenschaft gar zu viel Zeit und Energie verlangt, die ein Alltag selten bereitwillig zur Verfügung stellt, hat sich 2021 auf welchen absonderlichen Wegen auch immer ein enormer Lesehunger eingestellt. Ein Teil meiner Gedanken drehte sich dabei immer und immer wieder um diese kleinen Texte dieser Homepage. Mit dem Füllen letzter Lücken im Bücherregal wuchs in einer Schublade ein wilder Haufen abgerissener oder zusammengeklaubter Zettelchen mit hingeworfenen Ideen in handverfasster Unleserlichkeit. Das Ziel war, den Dezember noch zu überstehen, um sich vielleicht einmal stärker der Realität und dem Alltag zu widmen, und die Chancen standen gut, da der Bücherstapel abgearbeitet, und die vielen verlockenden Nebensächlichkeiten und kleinen verwirrten Gedanken, die mein Lesen schon immer begleitet hatten, zwar notiert oder zumindest hingeschmiert waren, diese kleine Saat aber in der besagen Schublade eigentlich gut gebändigt aufgehoben war. Manchmal, wenn ich die Lade aufzog und die kleinen Schnipselchen mir entgegenflattern wollten, wusste ich, dass kaum eine Gefahr bestand, dass die notierten Gedankensplitter mich ernsthaft in Gefahr bringen könnten, indem sie einforderten, aufs Papier gebracht zu werden. Zu wirr, zu zusammenhanglos genau wie die Liste der Bücher, die mich dieses Jahr jedes für sich begeistert hatten. Kein Kitt, kein roter Faden, keine Ausgangsidee, nur ein stetes inneres Rumoren, wenn ich an die klecksigen Zettel dachte.

Doch dann legte der Anfang von Dumas "Die drei Musketiere" einen ersten Köder aus … es ging um den Rat eines Vaters, es brodelte in mir, dann etliche Seiten später das seltsame Beratschlagen der Helden im Schneidersitz, der Schneidersitz, wieder so ein Detail, das mich spöttisch herauszufordern schien. Noch war ich allerdings vor einer Schreibattacke sicher. Gegen Ende musste aber Monseigneur Dumas ein englisches Wort einflechten in seine wenigen Degenkämpfe und endlosen Ränke, vier Wörter genauer gesagt, die in meinem Ohr nicht mehr zu hallen aufhörten. Dann war es still, eine Mucksmäuschenstille, die Inspiration ermöglicht. Ich musste lange im Lesesessel sitzen, da ein Gedanke sich aus großen, seltsamen Tiefen einen Weg an die Denkoberfläche bahnte. Es war wie in dem Moment vor einigen Jahren, als ich zum ersten Mal die Idee hatte, ich könne doch die in mir gesammelten Unwichtigkeiten auf einer erworbenen Homepage sammeln und "einkleben". Ich habe mich für viele Minuten nicht bewegt … eine Idee, so einfach, so banal. Man mag sich vielleicht fragen, ob sie der langen Vorrede wert ist … aber sie erfüllte mich in ihrer Einfachheit so ganz und gar, sie war bereits im Rat des Vaters von d’Artagnan angelegt, ich hätte sie nur erkennen müssen, im Brief aus England findet sie ihren höchsten Ausdruck, es geht um nicht weniger als um diesen einen Rat, oder vielleicht genauer gesagt, es geht um dieses eine Abenteuer, das wir alle haben und das ich inständig meinen Kindern gönnen möchte. Das Abenteuer, zu leben.

Doch nun (fast) der Reihe nach. Als zu Beginn des 19. Kapitels des zweiten Bandes die Recken d’Artagnan, Porthos, Artos und Aramis sich zu einer Beratschlagung zusammenhocken, auf der Erde die Beine gekreuzt wie Schneider, sind sie schon eine unerschrockene und zusammengeschweißte Rotte. Seltsam ist allerdings, dass die im weltbekannten Wahlspruch "Einer für alle, alle für einen!" beschworene Kameradschaft bei genauem Hinsehen zuweilen recht brüchig wirkt. Übervorteilung und die ein oder andere Unaufrichtigkeit schimmern hier durch das in den Köpfen der Tradierung so festgesetzte Ideal eines symbiotischen Männerbündnisses. (Ich konnte übrigens noch nicht ganz sicher herausfinden, dass die Schweiz ihr Staatsmotto "Unus pro omnibus, omnes pro uno!" dem kühnen Zusammenhaltsschwur der degenschwingenden Soldaten Dumas schuldet oder nicht, jedenfalls gibt es auch hier wie fast immer ein Ausgangszitat bei Shakespeare, wie die englische Wikipedia-Weisheit weiß.) Die Musketiere sind Helden, die ein äußerstes Maß gegenseitiger Treue und Loyalitätsbereitschaft gegenüber dem väterlichen Chef der Musketiere - Herrn von Treville - und gegenüber dem französischen König Ludwig XIII auszeichnet. Dieser König ist allerdings schwach, sein eingesetzter großer Minister, Kardinal Richelieu, ist der heuchlerische Strippenzieher, dem große Verachtung und steter Missmut der wackeren Königstreuen entgegenschlägt. Der König ist bei Weitem nicht mit den Fähigkeiten ausgestattet, aus ihm eine väterliche Identifikationsfigur zu machen. Spannend, wie Dumas den ersten Auftritt des absolutistischen Herrschers in seinem Roman gestaltet: Ludwig XIII tritt erst im 10. Kapitel zum ersten Mal auf die Bühne: als geiziger Spieler am Roulettetisch, mit vortrefflicher Laune, da er gewinnt. Die mit ihm verheiratete Königin hat wenig Grund zum Glücklichsein, vom Gatten beargwöhnt lebt sie in einer royalen Einsamkeitsnische. Als sie zu einem großen Ball erscheint, merkt das Volk, wie "traurig und angegriffen" sie aussieht, übrigens wie der König selbst auch. 

In der Psychologie sind die Begriffe des Königs bzw. der Königin Platzhalter für die elterliche Ordnung, die wegweisend und im besten Fall vorbildstiftend für die kleinen Zöglinge ist, die wiederum einmal in Fußstapfen treten, und wenn es gut läuft, über diese hinauswachsen wollen. Obige Mächtige taugen dazu in der Dumas‘schen Darstellung wenig (- auch wenn im ersten Auftritt des englischen Königs Charles I ein integrer Gegenentwurf zum französischen Machthaber die Bühne betritt). Schauen wir uns also an, wo Eltern in der Literatur wegweisend vor ihre Kinder treten. Wie bereits in Schnipsel 23 ausgeführt, fällt mir der Vater von Robinson Crusoe ein. Gleich auf den ersten Seiten lässt ihn Daniel Defoe sehr ausführlich darlegen, warum es sich seiner Meinung nach am besten in der Mitte der Gesellschaft einzurichten lohnt. Nicht zu weit oben, aber auch nicht zu tief. Das muss man am besten selbst nachlesen. (Der Rat des Vaters fruchtet nur bedingt, erlebt doch Robinson nach seinen Entscheidungen das größte bis dahin in der Literatur geschilderte Abenteuer überhaupt, das selbst die Umbenennung einer Insel in unserer Gegenwart bewirkt hat - vgl. dazu auch Schnipsel 207). Mir war auch immer der Rat von Daedalus präsent, der Ikarus warnte, nicht zu nah an die Sonne zu fliegen, damit das Wachs der angeklebten Flügel nicht schmelze. Beim Nachlesen sah ich, dass der genaue Rat auch beinhaltete, nicht zu nah an das Wasser zu fliegen, damit die Flügel durch die Feuchtigkeit des Meeres nicht verklebten. Wie in Schnipsel 23 dargelegt, stellt Pieter Brueghel der Ältere dar, wie gewaltig dieser Sturz gewesen ist, wie ungehorsam hoch Ikarus sich dem Rat des Vaters entgegengesetzt hat.

In Kazuo Ishiguros großem Roman "Der Maler der fließenden Welt" verbrennt der verbissene Buchhalter-Vater die Bilder seines Jungen, des Erzählers Masuji Ono, die Mutter versucht, die Tat zu verteidigen und die Lebensphilosophie des Vaters zu rechtfertigen. Der malende Sohn wird sich widersetzen, nie aber die Prägung der autoritären Beeinflussung und Manipulation des Vaters überwinden. Seine Tyrannei und Reue sind einen eigenen Text wert. Gleiches gilt für den Roman, der mich in den letzten Wochen wohl am nachhaltigsten prägte und vielleicht auch an den Schreibtisch brachte: John Steinbecks "Die Früchte des Zorns". Seltsamerweise war es dieser Band, der fast ebenso schwer neben dem ausgemusterten Dumas Musketieren stand. Dazu später vielleicht einmal mehr. Auf jeden Fall gibt es auch hier einen Rat, diesmal denjenigen einer Mutter: "Du gehörst auf deinen bestimmten Platz und da musst du auch bleiben. […] Jetzt sei still und arbeite." (Die Stelle ist viel komplexer, als es hier den Anschein haben könnte.)

Alexandre Dumas Musketiere hatte ich zu Beginn dieses Textes als Leseherausforderung angekündigt. Auf meinem Zettelchen finden sich die kaum leserlichen Worte: "Viele Entschädigungen". Die Idee der Atome findet sich genauso wie ein Kapitel, das tatsächlich, tatsächlich an Franz Kafka erinnert, Eifer bis hin zum Fanatismus findet sich thematisiert, Helene Weigels stummer Schrei, die Federstriche, die bei aufmerksamer Lektüre die Sklaverei andeuten, Darstellung von Schatten- und Halbschatten-Momenten, Stürme, die innere Stürme sind - ja wir befinden uns in der Schriftstellerei des 19. Jahrhunderts - die Diskutier-Tricks moderner Polit-Profis in Talkshows, gelbe Pferde, düstere Schauermomente wie in Shelleys "Frankenstein" oder Conrads "The Secret Sharer" und schließlich ein Hebel, der die Welt aus den Fugen heben könnte ... all dies findet sich. Die Optik der Dreieckshüte und der Bartmode, die uns aus den Mantel-und-Degen-Filmen so vertraut ist, findet sich ebenfalls, genauso wie sich zwei oder drei kleine Fechtszenen finden. Aber gleich im ersten Kapitel findet sich eben ein Vater, der einen Rat ausspricht, viele Seiten, bevor der schwache König seinen ersten Auftritt hat, einen Rat, der mächtig keine Zurückhaltung einfordert, kein Zaudern, kein Maßhalten. Es ist ein Rat der Fülle, der Rat einer großen Lebensbejahung: 

 

Wer eine Sekunde zittert, lässt sich vielleicht den Köder entgehen, welchen ihm das Glück gerade während dieser Sekunde anbietet. Du bist jung, du musst aus zwei Gründen tapfer sein; einmal, weil du ein Gaskogner, und dann, weil du mein Sohn bist. Fürchte die Gelegenheit nicht und suche das Abenteuer; ich habe dich den Degen zu handhaben gelehrt […] schlage dich bei jeder Veranlassung; schlage dich um so mehr, als Zweikämpfe verboten sind, und weil es deshalb eines doppelten Mutes bedarf, sich zu schlagen. […] Ziehe aus allem Nutzen, lebe glücklich und lange!

 

D’Artangnan ist Bearner wie Jean-Baptiste Adamsberg von Fred Vargas. Er schlägt sich angstfrei und wacker. Seine Mutter, das muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, hat ihm noch eine Wunderpaste mitgegeben, die Wunden umfassend heilt … immer dann, wenn er sich allzu leichtfertig dem Rat des Vaters hingegeben hat und unbesonnen in die Nahkämpfe des Lebens gesprungen ist. Mit dieser Haltung des Muts, des Herausforderns und In-Angriff-nehmens überspringen wir viele Seiten des Romans. Die Ränke der Abenteuer sind auf einem Höhepunkt, die Nachricht über Tod und Verderben oder Erfolg und Leben lassen aus England auf sich warten, bis das erlösende Billett kommt … es knüpft meiner Meinung nach an den Ratschlag des Vaters an, da es ein äußerstes Maß an Gelassenheit dokumentiert, wo sonst im Leben so häufig Aufregung und Aktionismus stehen: "Thank you! Be easy." Als ich das las, wusste ich, dass dieser Text  hier geschrieben werden musste. Mit diesem Billett zeigt Lord de Winter den Musketieren an, dass er ihre Warnung vor der großen Schurkin und Mörderin, seiner Schwägerin Lady de Winter, verstanden hat, er wird die Ruhe bewahren.

 

Nachtrag I:

Leider fruchtet die Gelassenheit nicht gänzlich. Diese Warnung vor der Erzschurkin Lady de Winter, die sich nicht hinter einem Blofeld, Jago oder Moriaty verstecken muss, kann am Ende die Gefahr nicht bannen, die von ihr ausgeht. Wie Sherlocks Schwester Eurus Holmes in der Inselfestung der modernen Filmfassung gelingt es ihr durch linguistische Programmierung, den jungen Wachoffizier Felton so zu manipulieren, dass ihr die Flucht ermöglicht wird und der Mord, vor dem gewarnt werden sollte, stattfindet. Den historischen Mord eines John Felton an Lord Buckingham gab es übrigens mit bis heute wohl nicht ganz aufgeklärten Ungereimtheiten wirklich. Ich musste diese Information in einen Nachtrag setzen, da ich die Haltung des "Be easy!" nicht verwässern wollte, auch wenn zur Romanwirklichkeit das Scheitern dieser Haltung gehört. Dumas verwendet noch an einer weiteren Stelle die englische Sprache, Lady de Winters letzte Worte werden sein: "I am lost! I must die." 

 

Nachtrag II:

Es ist erstaunlich, wie viele Schriftsteller exhumiert wurden, Edgar Allan Poe zum Beispiel. Alexandre Dumas, der große französische Abenteuerschriftsteller, den ich Anfang des Jahres auf dem Umweg über Umberto Ecos "Der Friedhof von Prag" im italienischen Freiheitskampf kennen lernte, hatte einen mittelamerikanischen, afrikanischen Hintergrund. Er ist spät im Pariser Pantheon beigesetzt worden. 2021 ist Josefine Baker hier gehrt worden. Zwei späte Ehrungen.

Fotos v.l.n.r.: Alexandre Dumas Grab im Pantheon, fast alle Darstellungen des Ikarus fallen kopfüber ins Meer, Josephine Baker, fotografiert von Jac. de Nijs.

Schnipsel 214: "... off the fatta the lan'"

(c) Stefan Scheffler

Neben Dumas stand Steinbeck. Eine Schildkröte ziert den Leineneinband, die mäandernde Linie ihres Gangs, vielleicht ihrer Panzermusterung verläuft über den Schriftzug des Titels auf dem Buchrücken: "Früchte des Zorns".

John Steinbeck lernte ich das erste Mal über meinen Englischlehrer Manfred Blassl kennen, er las mit uns "Of Mice and Men", die Geschichte der beiden Wanderarbeiter Lennie und George. Heute glaube ich, dass Manfred Blassls eigene Erfahrungen von Zurückweisung und Ausbeutung, Gewalt und "Sich-Durchschlagen-Müssen" als Flüchtlingskind der Nachkriegsjahre die Auswahl seiner Schriftsteller beeinflusst haben, die er studierte und schließlich mit uns im Unterricht las. Ein Mitschüler, ich glaube es war Felix, machte einmal eine heimliche Aufnahme, die unseren Lehrer mit erhobener, kampfbereiter Faust zeigt. Immer wieder erklärte er uns das Mantra, das Lennie von seinem drahtigen Beschützer George Small immer und immer wieder hören wollte. Es ist das Bild der großen Sehnsucht einer eigenen Farm, einem Leben als Selbstversorger, die Sehnsucht einer Unabhängigkeit und Befreiung von Verletzungen und Erniedrigungen, der Sehnsucht eines Lebens in Frieden: "to live off the fatta the lan‘" - vom "Rahm", "Fett" des Landes leben, von dem, was die Erde als Überschuss für den Landmann abwirft - "the fat of the land". Mit der Lektüre hämmerte unser Lehrer uns für ihn wichtige Schlüsselbegriffe ein: dignity - die Würde des einfachen, geknechteten Menschen; alienation - die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, seinem Lebensraum. (Nur nebenbei sei bemerkt, dass Karl Marx in Auszügen unsere konservativ-liberale Geschichtslehrerin Frau Bremer mit uns las.) Als ich nun nach so vielen Jahren wieder John Steinbeck in die Hand bekam, stellten sich viele dieser Erinnerungen an die Gymnasialzeit ein. Im 5. Kapitel von "Früchte des Zorns" erkannte ich einen Text wieder, den Manfred Blassl mit uns durchgekaut hat, um die Verletzungen zu vermitteln, die die Technik einer modernen, industrialisierten Landwirtschaft der Landschaft und der Natur, dem Leben insgesamt zufügt. Ich meine mich sogar, an die alte grobkörnige Kopie zu erinnern, die einen gasmaskenähnlich-bebrillten Traktorfahrer inmitten einer gespenstischen Monokultur zeigte. Der Fahrer einer kettenbepanzerten Pflugmaschine ist selbst seiner Umgebung und seiner Arbeit entrissen, die Ausrüstung zeigt ein größtes Maß an Distanz, versinnbildlicht in der Abschottung durch eben jene Schutzbrille - goggles, wieder eine Vokabelerinnerung.

Wie gesagt, Steinbeck brachte ich neben Dumas nach Hause und um es gleich vorwegzusagen, es ist eines der wichtigsten Leseerlebnisse der letzten Jahre gewesen. Leider kann man die Flucht der Landbevölkerung aus Oklahoma und einiger Nachbarstaaten vor der (vom Menschen mitverschuldeten) Dürre der dreißiger Jahre nicht unter dem Stichwort des "Abenteuers" lesen. Die Tragödie des systematisch gebilligten, ja gewinnbringend genutzten Verhungerns Zehntausender von Menschen ist zu schwarz, zu traurig.

Der Beginn des Romans beschreibt die ausgezehrte Landschaft und Erde, die nun als feindseliger Staub durch die Finger der Menschen rieselt, die einmal von der Bewirtschaftung des Ackers leben konnten, bevor die Schulden und die Macht der Banken sie um den Besitz brachten. Am Ende reichte selbst ihre Arbeit als billigste Leibeigene unter grausamen Pachtbedingungen nicht mehr aus, um ein Überleben zu gewährleisten. Die Ausbeutung ihrer Hände Arbeit wurde mit der Entwicklung von Traktoren und Erntemaschinen unrentabel. Eine Landflucht in Richtung eines gelobten Staates Kalifornien setzte sich in Gang, einem Land, mit der die Hoffnung verbunden war, dass dort die reifen Früchte in Hülle und Fülle sowie lohnende Erntearbeit versprechend von den Bäumen hingen. 

Im oben erwähnten 5. Kapitel schildert John Steinbeck, wie dem Boden die tödlichen Narben der Ausbeutung geschlagen wurden, die am Ende ein Ödland, größtes Elend und Verhungern zurückließen. Die Farm der Toads erfährt einen letzten Gewaltakt durch die feindselige Kraft einer auf dem Land wütenden, scharfkantigen Pflugmaschine. Das Rammen des Hauses sichert dem Mann am Steuer des Traktors noch eine Prämie; das Farmhaus verliert endgültig seine Statik, es bleibt nur die Aufgabe des Hofes. Nun beginnt der Aufbruch einer so genannten Okie-Familie, die ihre wenigen Halbseligkeiten auf einem Truck verschnürt und in Richtung Westen aufbricht. Nicht Thomas Manns "Buddenbrooks", dieser Roman schildert den vollständigen Niedergang einer Familie und die ihm zugrunde liegenden systemischen Ursachen.

Der Roman ist zu groß, das Thema ist zu wichtig, als dass er einen Nebenpfad, eine "Schnipsel-Idee" abwerfen könnte. Selbst die Schildkröte eines Anfangskapitels dient trotz des Ansatzes eines Dekorums dazu nicht. Zwei Stellen aus Bertolt Brechts Gedicht "Schlechte Zeit für Lyrik" fallen mir dazu ein: "In meinem Lied ein Reim / käme mir fast vor wie Übermut", das hieße übertragen: In diesem Text ein gefälliges kleines Motiv aufzugreifen, verbietet sich aufgrund der Tragweite und Traurigkeit der geschilderten Tragödie eines Massensterbens. Das zweite (gekürzte) Zitat allerdings beinhaltet den Beweggrund, dass ich auf ein Schreiben über John Steinbecks Roman nicht herumkam, ohne mich natürlich mit Brecht in einem Atemzug nennen zu wollen, verdammt:

 

In mir streiten sich 

Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum 

Und das Entsetzen […] 

Aber nur das zweite 

Drängt mich zum Schreibtisch. 

 

Auf den Buchdeckeln und den Seiten zwischen ihnen und dem Text habe ich Dutzende von Notizen untereinander vermerkt mit ein, zwei kleinen Skizzen. Ich habe mir gewünscht, über diesen Roman so unbefangen schreiben zu können wie vielleicht mit 17 oder 18. Mit einem unverstellten, frischen und freien Blick, einem Blick, der keine Angst vor seiner eigenen Bewunderung zu haben braucht. Dann fiel mir ein, dass ich mit dieser Homepage genau diese Freiheit habe. Kommen wir also zur Kernfrage, meiner Kernfrage: Wie kann man die Hoffnung der ausgebeuteten Landarbeiter, Flüchtlinge, Okies deuten, wie das von Steinbeck geschilderte Zusammenhalten, die Solidarität der Besitzlosen, wie das große Schlussbild bewerten, wenn die Milch einer Mutterbrust einem verhungernden fremden Vater gereicht wird, weil das eigene Kind der Kernfamilie im Mutterleib der ältesten Tochter verendet ist? Sind die dokumentierte Würde und Solidarität der Besitzlosen naiv oder lebensfähig? Wie weit reicht Steinbecks Aufruf zu einer Veränderung, wie weit ist der Grad des Aufrufs zu revolutionärer Veränderung? Nur wenige der Ausgebeuteten erkennen die Systematik und die Mechanismen der Ungerechtigkeit, einige Ansätze werden an Lagerfeuern geäußert, das Übel an der Wurzel zu packen bzw. wenigstens sich innerhalb der Landarbeiter oder vielmehr Tagelöhner zu organisieren. Wie aber die Kinder in Henning Mankells "Der Chronist der Winde" haben die ausgebeuteten Erntehelfer keine Chance, ihre Macht zu erkennen bzw. einzusetzen. Diese Ahnung einer Macht durch Organisation wird im Keim durch Hunger und Lohnabhängigkeit erstickt. Steinbeck hatte aufgrund seiner journalistischen Reisen und auch aufgrund guter Quellen tiefe Einsichten in die tatsächlichen Lebensbedingungen der Landflüchtlinge. (Wenn ich einmal dazu bereit sein sollte, tiefer an der Analyse zu arbeiten, werde ich nicht darum herumkommen, mich der Thematik der Integrität Steinbecks zu stellen und der Dokumentationsarbeit von Sanora Babb ein Kapitel zu widmen, noch hält mich beine schiere Bewunderung für diesen Roman davon ab, ich weiß darüber tatsächlich viel zu wenig.) 

Meine Beobachtung richtete sich ungetrübt auf den Text und insbesondere die Komposition des Romans an sich. Hierbei ist augenfällig, dass alle wichtigen Entscheidungen der Farmer immer zuerst im Familienrat erörtert werden. Stöckchen oder nackte Fußzehen zeichnen Linien im Staub, wenn sich zur Beratung in einen Kreis gesetzt wird. Die Kinder bilden den äußeren Kreis dieses Familienrats, wenn es sehr ernst wird, werden sie über die Tragweite der weiteren Handlungen informiert und in die Verantwortung genommen. Eine Eigendynamik entsteht, wenn einmal eine lang verschobene Entscheidung gefällt wurde, der Aufbruch dann nicht mehr abgewartet werden kann. Ein Einvernehmen, das alle Eigenarten der Individuen, ihr Alter, ihre Fehler verzeiht oder in den Hintergrund drängt. Im Verlauf des Romans kommt es sogar zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse von der männlichen Herrschaftsebene auf die Ebene der Frauen bzw. der Mutter, ihre Marschrichtung wird mehr oder minder stillschweigend akzeptiert. Verlässt allerdings ein Charakter den Kreis der Kernfamilie, bleibt am Wasser eines Flusslaufes hängen oder muss, um die Familie selbst zu schützen, vor dem Gesetz fliehen, verliert der Roman keinen weiteren Gedanken mehr an ihn. Sein Schicksal findet nun außerhalb der Reichweite der familiären Wahrnehmung statt. Es sind die jungen Männer, die diesen Kreis verlassen oder verlassen müssen und die Familie und ihre Kraft bzw. ihren Zusammenhalt schwächen. Ein Meisterwerk des erzählerischen Aufbaus. 

Diesem gestalterischen Moment der auf die Kernfamilie verengten Kameraperspektive tritt kontrapunktisch ein Leitgedanke gegenüber, der sämtliche Vorstellungen von Individualität oder Singularität (auch eines Familien-Gebildes) sprengt bzw. auf eine völlig andere Begreifensebene von Leben an sich hebt. Unter einem Baum in der Dürre des vertrockneten Landes trifft der aus dem Gefängnis entlassene John Toad einen ehemaligen Wanderprediger. Casy hat eigentlich sein Leben als Prediger hinter sich gelassen. Nach wenigen Augenblicken merkt der Leser, dass hier zwei echte Menschen zusammenkommen, keine Luftnummern. Wenige Seiten später wird der einstige Prediger in den Familienverband aufgenommen und ihm wird ein Platz - trotz des großen Mangels an Platz und Mitteln - auf dem klapprigen Gefährt in Richtung Westen und Aufbruch angeboten. Dieser Casy hat die Religion und seinen Gott hinter sich gelassen. Sein Entwicklungsprozess liegt jenseits der Möglichkeiten des Erfassens, das den Tagelöhner-Farmern zur Verfügung steht. Ihr Entschluss, Casy zu akzeptieren und bei sich aufzunehmen, ist intuitiv, folgt dem Herzen oder der Idee einer Rückversicherung, dass ein Prediger auf einer Reise ins Ungewisse nicht schaden könne. Casy wird am Ende derjenige sein, der seine Stimme nicht mehr einem fernen Gott verleiht, sondern der Notwendigkeit der Organisation einer Arbeiter- oder Gewerkschaftsbewegung. Es wird ihn seinen Kopf kosten. Jetzt kommt die Größe Steinbecks und seiner Roman-Komposition zum Tragen, die die Handlung von den ersten Seiten bis zum Ende im Blick hat und den Roman verzweigt, umspannt, verbindet. Casy äußert eine (insbesondere vor der geschilderten historischen Vereinigung der Arbeiterbewegung) unglaublich große Idee, die die Bedeutung der einzelnen Seele und des einzelnen Seelenheils hinter sich lässt, um ihr ein Gegenbild einer größeren Vorstellung von Seele und Seelenheil zur Seite zu stellen: Die Idee einer Seele aller, one soul. Immer wieder taucht diese Idee in kleinen kerzenflackernden Äußerungen auf: 

 

Und ich habe angefangen nachzudenken, aber ich habe nicht nachgedacht, es war viel tiefer als Nachdenken. Ich habe nachgedacht, wie heilig wir sein würden, wenn wir eins wären, und wie die ganze Menschheit heilig sein würde, wenn sie eins wäre. […] Aber wenn alle zusammenarbeiten, nicht einer für den anderen, sondern einer für das Ganze - dann ist das richtig und dann ist das heilig.

 

Auch die Mutter wird an einer späteren Stelle ihrer Tochter offenbaren, dass es ein Ertragen und ein Sterben gibt, das über das gefühlte Maß des einzelnen reicht. Am Ende bringt Casy diese Ideen der einen Seele in Verbindung zur union, der Zusammenschließung der Vielen unter einer gemeinsamen Sache zur Verbesserung des kollektiven Lebens. Zu dieser Leistung in ihrer Solidarität sind im Roman zumeist nur diejenigen in der Lage, die nichts besitzen, bzw. diejenigen, die so wenig besitzen, dass es nicht dazu reicht, um durch den Besitz sich gegenüber anderen abzugrenzen. Der wenige Besitz erscheint kaum wert, als dass das Wenige nicht auch noch mit dem ärmsten Nachbarn zu teilen sein könne. Wie arm erscheint einem dabei einer jener Mächtigen, der einmal in der Äußerung eines Polizisten Erwähnung findet: ein Super-Reicher seiner Zeit, John Pierpont Morgan, der übrigens zeitlebens um die richtige Abbildung seiner verkorksten Nase kämpfen musste.

Der einzelne Weg wie zum Beispiel auch der Weg der einzelnen Schildkröte, die ihrem Instinkt folgt, verliert sich, sie findet keine Erwähnung mehr genauso wie die Wege von Connie, Noah, Al, John und Casy, wenn sie die Kernfamilie verlassen. Das Programm einer wirklich effektiven Solidarisierung erkennt und zeichnet John Steinbeck außerhalb der Familienbande: Der Weg aus der Misere führt über die Überwindung von ausbeuterischen Strukturen und kapitalistischen Mehrwerts-Theorien. Fünfzehnmal werden die Strukturen erwähnt, die den Mächtigen durch systemische Ausbeutung gewinnbringende Vorteile verschaffen, die allerdings skrupellos mit der Grundlage des Lebens und der Gemeinschaft umgehen. Hier einige Beispiele:

 

"Vielleicht müssen wir kämpfen, um unser Land zu behalten."

"Die Leute erzählen, es sind Hundertausende von uns weggejagt worden. Wenn sie alle so wütend sind, jeder einzelne, Tommy - dann können sie uns nicht jagen und niederschießen …"

"Und sie werden alle zusammen marschieren, und dann wird es Tod und Schrecken geben."

"Die großen Eigentümer schlagen zu auf das Unmittelbare, auf die sich vergrößernde Regierung, die wachsende Einheit der Arbeiterschaft, auf die neuen Steuern und neuen Pläne, ohne zu wissen, dass diese Dinge Ergebnisse sind, nicht Ursachen."

"Wenn du Ursachen von Ergebnissen unterscheiden kannst, wenn du weißt, dass Paine, Marx, Jefferson, Lenin Ergebnisse, nicht Ursachen waren, wirst du vielleicht am Leben bleiben."

"Da wächst eine Sache, die das ganze Land verändern wird."

"… wenn Eigentum sich in zu wenig Händen angesammelt, wird es wegegenommen. Und die zweite Tatsache, die zur ersten gehört: wenn die Überzahl des Volkes Hunger hat und friert, dann wird sie sich mit Gewalt das nehmen, was sie braucht."

 

Es sind zumeist Gedanken von Casy, die Idee der Organisation entwickelt sich, auch wenn die Wanderarbeiter aufgrund ihrer Ausgehungertheit noch zu schwach sind, die Ideen der Vereinigung realistisch umsetzen zu können. Ich kann mir den Ruf "Agitationsliteratur" vorstellen, ich kann ihn hören. Am besten nimmt man das Buch in die Hand, um die Tiefe und Fülle des Romans im Nachlesen zu spüren. Er ist revolutionär und eben viel, viel mehr, ergreifend in vielerlei Hinsicht. In seiner Religiosität gefangen, macht sich Onkel John Toad über seine Sünden Gedanken. Er ist ein einzelner im selbstzerfleischenden Eifer seiner Verfehlungen. Casy entgegnet ihm: "Sünden macht man sich selber, Sünden begeht man nicht." Diese Weltsicht muss man nicht teilen, aber man sollte mit dieser Äußerung erkennen, wer sich über Vergehen welche Gedanken macht, und an welchen Verfehlungen der Herrschenden jeglicher Skrupel abprallt bzw. für wen Ungerechtigkeit keine verändernde Kategorie bedeutet und wer wiederum in seiner Schwäche und Prägung seiner Kaste um sein mageres Seelenheil fürchtet. Die Literatur Steinbecks ist Realität, sie bildet Realität ab, kraftvoll in den Worten eines Menschen, der sich mit Arbeit und Arbeitsprozessen auskennt. Die Instandsetzung eines Motors erfährt eine Prosa höchster Qualität, Erntearbeit wird als Arbeit in der Darstellungskunst gewürdigt - so wie vielleicht bei Tolstoi im Mähen einer Wiese (vgl. dazu vielleicht Schnipsel 131). Die Dokumentation der Tragödie der Okies findet in den Fotografien der deutschstämmigen Dorothea Lange ihren Ausdruck, in der Musik in den Liedern und im Leben von Woody Guthrie. Die eigentliche Tragödie ist vielleicht, dass das System an sich nicht in der Lage ist, ein Gefühl der Sünde zu empfinden - Steinbeck zeigt uns: Auf eine Reue der Ausbeuter und Verbrecher darf man sich in den seltensten Fällen verlassen. John Steinbecks Roman ruft zu revolutionären Veränderungen auf. Ich vermute, dass man diesen Gedanken versucht hat, zu verwässern, ich werde es nicht weiterverfolgen. Der mögliche Beweis, dass meine Vermutung stimmen könnte, ist, dass er mit Verbot belegt, ja gar verbrannt wurde.

Wie funktioniert der Aufruf zur Veränderung? Aufgrund seiner eigenen Erfahrung und seiner gewählten Quellen weiß Steinbeck, wovon er schreibt. Er ist Romanschriftsteller, kein Theoretiker, den gedanklichen Überbau webt er in die Roman-Komposition ein. Seine schärfste Waffe ist die Empörung, der Zorn, die Traurigkeit. Dies spiegelt der Titel: "Früchte des Zorns". Dieser sperrige Verweis auf die Bibel und ihre Ikonographie ist mächtig, für mich aber auch immer etwas verwirrend. (Dies galt auch für die durch den Titel "Of Mice and Men" gewählte Beziehung Steinbecks zum Gedicht von Robert Burns.) Am Ende ist es die Macht des Bildes allein und der Klang nach Wut und höherer Drohung, der diesen Titel wahrscheinlich rechtfertigte. Wie so häufig muss Literatur ein Thema wählen, es schildern, gestalten, in die Köpfe bringen. Sie muss aufrütteln, aufwecken, empören, Unruhe stiften, eine Auswahl treffen, um Veränderung einzufordern, sie muss keine Lösungen liefern (vgl. dazu vielleicht den Ansatz von D.H. Lawrence in Schnipsel 26). 

Die Empörung wäre auch 2021 zu greifen, an manchen Grenzen das Elend zu sehen … an unseren Grenzen, den Grenzen von Ländern, in denen wir gewinnträchtig Fußballspielen wollen, durch die Erdöl oder Gas fließen sollen. Manche Wut ist in letzter Zeit in die Gesichter der jungen Erwachsenen eingemeißelt zu sehen, in den Gesichtern sterbender Kinder zum Beispiel des Jemens ist der Ausdruck leer. Es ist trotzdem in beiden assoziierten Fällen eine Saat angelegt, ein Zorn, der in der Welt ist, auch wenn die Welt der Satten noch gut abgeschottet funktioniert. In meiner Kindheit gab es oft die Geste der gestreckten Faust, das Wort dazu war: "Wehe!" Manfred Blassl hatte diese Geste wohl tief verinnerlicht. Ihm verdanke ich, dass ich John Steinbecks Roman als ausgemustertes Exemplar einer Bibliothek in die Hand nahm. Unsere goggles sitzen wahrscheinlich aus der Perspektive der Hungernden oder Flüchtenden noch passgenau. Die Wahrheit des Romans hat Bestand.

Dokumentationen der Sandstürme der großen Dürre.

Dorothea Lange und zwei Beispiele ihrer Dokumentation des Elends.

Schnipsel 215: Catch the Wind - Ephemera

(c) Stefan Scheffler

“Wie eine Wiesenblum’, die man nicht wiederfind‘t“, klingt ein Vers von Andreas Gryphius mir immer und immer mal wieder im Ohr, leicht verändert, durch meine Erinnerung oder Weltsicht wie ein Flusskiesel abgeschliffen. Auch Donovans "Catch the Wind" weht immer und immer mal wieder durch mich durch.

Wie kommt es, dass Wörter plötzlich da sind und dann immer und immer mal wieder auftauchen? Nie hatte ich bis in die neunziger Jahre das Wort "erratic" gehört, einmal mir von einem Freund für ein Essay erklärt, knisterte es sich nun stetig aufgewühlt in den Sprachschatz, wenn es gereizte oder nervöse Wesenszustände in Worte zu fassen galt. Seit Mitte letzten Jahres kam der Begriff "ephemer" oder in Abwandlung "ephemera" hinzu und meinte dabei nie die kurzlebige botanische Gattung der Nur-einmal-Blüher-und-dann-Vergeher. Warum ist das Wort so vielen Büchern meiner Leseliste 2021 zu finden? In ihrem Heldinnenepos "Annette" bezeichnet Anne Weber den vermeintlich temporär allmächtigen Tyrannenstaat, gegen den sich der Widerstand richten musste, als "ein ephemeres Deutschland". In der Anmaßung der Allmacht bzw. im absurden Anspruch auf tausendjährige Dauer ist das Scheitern und Vergehen bereits angelegt. Bestand verleiht Anne Weber dem Kampf gegen Ungerechtigkeit, indem sie das Leben der Anne Beaumanoir in Worte meißelt. 

Hervé Le Tellier lässt den Blick eines Flugzeugreisenden die "ephemeren Fliegenflügel", gemeint sind die Abdrücke der Blättchen einer Schildplattbrille auf einem Nasenrücken einer Mitreisenden, finden. Auf über 300 Seiten nimmt Le Tellier die Leserinnen und Leser auf eine Reise durch Variationen und Konstellationen mehrerer Parallel-Schicksale "ein und doch nicht derselben" Charaktere, die durch einen seltsamen Raum-Zeit-Unfall während eines turbulenten Ozeanüberfluges gedoppelt wurden. Die Antworten der vom unerwarteten Doppelgängertum betroffenen "Individuen" reichen von konsequenter Beseitigung bis hin zum friedlichen Arrangement eines geregelten Miteinanders. Irgendwo habe ich vor Kurzem aufgeschnappt, dass das Wort Individuum sich von der lateinischen Bedeutung "unteilbar" ableitet. Le Tellier lässt das Universum in seinen Grundfesten erschüttern, hebt es aus den Angeln ähnlich wie in der Fantasie von Douglas Adams in "Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele" (vgl. Schnipsel 112). Durch Le Telliers Spiel mit den Möglichkeiten klingt ein unterlegter Grundton der verwirrten Sorge durch, der das Leben an sich in der Gefahr der Erosion, Auflösung, Instabilität ausdrückt. Auf der letzten Seite zerfließen die Sätze in sich verjüngenden Zeilen-Fetzen und tropfen aus dem Roman ins Ungewisse. Irgendwo habe ich dieses zerfließende Dreieck in einer uralten Cicero-Ausgabe gefunden. Wo?

Auch Matt Haig führt die Leser mit seinem 2021 erschienenen Roman "Die Mitternachtsbibliothek" in ein Spiegelkabinett der unbegrenzten Lebensmöglichkeiten. Die am Ende zu treffende Entscheidung bzw. gewonnene Erkenntnis ist allerdings tröstlich, stellt uns vor die Aufgabe einer Bindung oder des Festlegens auf den einen Weg, den wir tatsächlich dann ausgestalten können, ein Plädoyer für das Leben durch uns mit der gewonnenen Weisheit, dass es die perfekte Lebenslinie, den optimalen Lauf durch die Existenz nicht geben kann und dass wir das Leben, was wir haben, schätzen und entwerfen sollten. Das Abenteuer zu leben.

Ein weiteres Buch des vergangenen Jahres, ein weiteres Treffen auf den aufgespürten Suchbegriff: Diana Kinnerts Bestandsaufnahme unter dem Buchtitel "Die neue Einsamkeit" bräuchte mehr Zeit. Nur so viel, gleich zu Beginn schildert sie das Bild eines schillernden Abendessens in einem bunten Szenelokal in der Hauptstadt. Menschen mittendrin im lebendigen Trubel, da, wo man gerne dazugehören möchte. Doch dieser hippen Zufriedenheitsgefühlslage, Teilhaber des richtigen Trends zu sein, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu den richtigen Zeitgenossen zu gehören, bröckelt. In ihrer erratischen Unfähigkeit, sich zu einem verbindlichen Abendessen einzufinden, sich verlässlich aufeinander einzulassen, ist ein erstes Symptom der Atomisierung unserer Gesellschaft zu erkennen, hieran anknüpfend, gelingt Diana Kinnert eine schonungslose und sehr nachdenklich stimmende Darstellung der Ursachen und Mechanismen der Vereinsamung in unserer Gesellschaft. Zwei Begriffe bereits im ersten Kapitel: "Multioptionsattitüde" und "Ephemerkultur".

Diese Themen bzw. Bearbeitungen in der zurzeit erfolgreichen Gegenwartsliteratur zeigen vielleicht, dass hier ein Nerv getroffen werden will, der gerade in unserer gegenwärtigen zivilisatorischen Selbstwahrnehmung frei liegt. Hier gilt es auf ein Problem aufmerksam zu machen: Die Sehnsucht nach Stabilität, Sinn, Miteinander, Erfüllung, Glück trifft auf Schnelllebigkeit, Flüchtigkeit, Belanglosigkeit, Austauschbarkeit oft im bläulichen Schein glitzernder Bildschirmoberflächen. Was dann am Ende zurückbleibt, ist allzu häufig eine herbe Unzufriedenheit, Unzufriedenheit vor oder hinter spiegelnden, glatten und oft funkelnden Oberflächen. Etwas ist ins Bröckeln geraten, wird haltlos. Der englische Begriff "dissolution" fällt mir ein, Auflösung, Zersetzung. Dieser Zerfall findet zurzeit bis in die Erkenntnis unseres Weltbildes statt. Vor Kurzem wurde in einer Überschrift reißerisch hinausgeplärrt, dass der Physiker Cumrun Vafa eine Theorie entwickelt habe, wonach es unser Universum gar nicht gibt oder geben kann. Ich bin froh, dass mein Verstand in seinen wohligen Grenzen dies nicht begreift; ich frage mich allerdings auch, ob in diesem Stadium vertiefter Erkenntnisse, Schienbeine noch schmerzen. Ein Nerv ist getroffen. Ein Ausblick auf eine Welt, die komplexer, vielschichtiger, tiefer ist als unsere schnelle Alltagsvorstellung. Seltsamerweise traue ich hier den Dichtern mehr zu als den Physikern, da ihre Einsicht ins Flüchtige nicht den Anspruch auf theoretische Fundamentierung erhebt. Dazu gleich mehr bei Nick Flynn.

Das zweite Mal, dass ich Anfang des letzten Jahres über den Begriff "ephemera" stolperte, war gefällig, schön, besaß eine eigene Ästhetik in der fast unfreiwilligen Konservierung von wertgeschätztem Leben in Alltagsgegenständen, die eigentlich der schnellen Verbreitung dienen sollten und denen ursprünglich nicht der Anspruch auf Dauer mitgegeben worden war. Im Antiquariat "Atlanta Vintage Books" (hier ein Link) standen zwei signierte Dürrenmatt-Bände, die mir allein aufgrund der möglicherweise erzählten Geschichte der Widmung und Signatur so sympathisch waren, dass ich nachfragen musste. Es war ein sehr bereichernder Kontakt mit einer freundlichen Mitarbeiterin, die am Ende sogar durch diese Schnipsel zu einem Eintrag in ihrem Newsletter inspiriert wurde. Auf der Homepage des Ladens wird die Geschichte seiner Gründung erzählt, die Aufgabe eines bisherigen Lebens zugunsten eines Projektes, das man schon immer einmal ausprobieren wollte. Diese kleine Video-Sequenz ist so lohnend, doch ich schweife ab … Der Bookstore bewirbt einen Bereich, der bei der Geschäftsübernahme miterworben wurde und so umfangreich ist, dass man ihn nicht im Einzelnen auflisten könne; es ist der Bereich "ephemera" … "These items are wonderful for art projects, vintage enthusiasts, and collectors." Ein Laden, der sich der Eigenästhetik der Memorabilia bewusst ist. Tatsächlich hat die University of Reading eine eigene Studienabteilung für "ephemera" etabliert. Unglaublich (hier ein Link).

Kurz vor dem "Dürrenmatt-Deal mit Atlanta"(, der unglaublich sympathisch krakelig ist,) stolperte ich das erste Mal über den Begriff, und der Moment ergriff mich bereits bei diesem ersten Mal mit ähnlich entfachter Begeisterung, auch wenn ich noch nicht absehen konnte, wie raumgreifend und vernetzend über die Monate dieses Geistesgut werden würde. Aufgrund des kopfüber gesetzten Titels hatte ich mir nach einer Rezension von Beowulf Sheehan den Gedicht-, Gedankensplitter- und Grafikband "Stay" von Nick Flynn gekauft. Der zweite Eintrag steht unter der Überschrift "On Ephemera". Nick Flynn erzählt, wie er immer erst auf eine besondere Spurensuche in einer Stadt gehen muss, um sich zu verorten, um eigentlich herauszufinden, wo er ist, aber auch wer und was: "… to find out where or who / or what I am." Drei Stücke beschriebenen oder benutzten Papiers sind zu finden, weggeworfen, verweht - dann aufgehoben, um zu einer Collage auf einer dem Wetter ausgesetzten Pappe (am liebsten mit Schriftzug oder eines Zeichens seiner ursprünglichen Bestimmung versehenen) neu zusammengesetzt zu werden. Ein Einkaufszettel, eine Kinderzeichnung, ja selbst der Karton beinhalten, tragen, konservieren ("contain") Zeit. Sie werden Träger von Bedeutung. Sie werden Verbindungsstücke zum Aufenthaltsort. Ich bin von diesem Gedanken verhaftet, ich kenne das Motiv z.B. in der Kurzgeschichte "Taubers Sammlung" von Karl Olsberg. Hier ist die Hingabe an weggeworfene oder verlorene Alltagsstände, ihre Sammlung eine herzergreifende Verarbeitung einer Familientragödie, der Versuch einer Verarbeitung von Trauer, die am Ende der Geschichte große Unterstützung und Anteilnahme findet. Phil, der Hauptcharakter aus Andreas Steinhöfels Jugendroman "Die Mitte der Welt", trifft auf seinen späteren Freund Nicholas das erste Mal, als er ihn dabei beobachtet, wie er etwas im Vorbeigehen aufhebt. Diese Beobachtung bleibt eher auf dem scheuen Stand einer Vermutung. Das Geheimnis von Nicholas ist am Ende ebenfalls eine Sammlung, mit der dieser versucht, eine eigene Geschichtenwelt zu erschaffen, vielleicht, da es ihm selbst nicht gelingt, seine eigene Lebensgeschichte vollständig zu leben. Ephemera. In "Die fabelhafte Welt der Amelie" gibt es die Sammlung von zerrissenen, zerknüllten, aufgeklaubten und in ein Album geklebter Automaten-Fotos, die ein geheimnisvoller Sehnsuchtsmensch verliert und eine große Spurensuche in Gang setzt. Auch ein kleines Metallkistchen mit den Erinnerungsstücken an eine vergessene Kindheit spielt in dieser großen Hommage an den Einfluss des Einzelnen auf das Leben eine große Rolle. Das Detail erfährt Würdigung, im Kleinen, Vergänglichen wird das Echte erkannt, solange es seine Greifbarkeit nicht verliert. Dinge ermöglichen die Kontaktaufnahme, sie sind Träger eines Echos, Spuren einer Lebendigkeit. Eine verwehte Skizze, eine weggeworfene Quittung, die Botschaften auf der Rückseite eines Gemäldes tragen eine tiefere Bedeutung, fungieren als reichere Quelle als ein fertiggestelltes Bild, der gelieferte und vielleicht schon ausgemusterte Gegenstand im Paket oder die vorzeigbare Oberfläche, die vom Haken an der glatten Wand prangt. Ich erinnere mich, wie sehr mich Christoph Ransmayrs Reiseschilderungen im "Atlas eines ängstlichen Mannes" beeindruckten, wenn sie die Momente jenseits der Hotspots schilderten und mich zu Erlebnissen mitnahmen oder Perspektiven einluden, die abseits der gängigen Fotomotive stattfanden bzw. jenseits der Aussichts-Plattformen ihre tiefer suchende Aufmerksamkeit auszurichten versuchten.

Ursprünglich sollte dieser Schnipsel die Überschrift haben "Dem Augenblick Dauer verleihen". Es ist ein Zitat aus Goethes Gedicht „Das Göttliche“:

 

Nur allein der Mensch

Vermag das Unmögliche:

Er unterscheidet,

Wählet und richtet;

Er kann dem Augenblick

Dauer verleihen.

 

Hier fand ich die Idee gewürdigt, dass eben ein Dichter, ein Künstler, ein kreativ blickender Mensch im vielleicht auf den ersten Blick bedeutungslosen Detail die Kraft des Lebens oder die Besonderheit der Schöpfung erkennt und einem tieferliegenden Wert, Gedanken, Gehalt des Moments Beachtung und damit vielleicht Überleben sichert. Etwas Flüchtigem Dauer verleihen. Die Infragestellung des Universums überlasse ich für den kurzen Moment unserer Erkenntnisepoche den Physikern, sie "triggert" mich nicht. Stell dir mal vor, mich oder uns gibt es doch, und das wissen wir erst übermorgen, dann sind die Infragesteller von heute ganz schön angeschmiert, wenn sie die Größe des Augenblicks des Jetzt verpasst haben. Aber der Herausforderung, hinter dem ganzen Offensichtlichen, scheinbar Tatsächlichen, dem Ordentlich-Abgegrenzten einen weiteren Erkenntnisraum zu ahnen und in aller Gelassenheit unser Unwissen darüber zuzulassen, um nach dem schmalen Türspalt mit Blick ins magische Dahinter zu suchen, dessen Erkenntniszugewinn vielleicht erst von einer nächsten oder übernächsten Denkgeneration entzaubert wird … dieser Herausforderung wird die Dichtung gerecht. Drei Beispiele:

 

1. Nick Flynn in "Manifest (O)" (hier als Link zum Nachhören) in einem gekürzten Übertragungsversuch:

"Unsere Aufgabe als Schriftsteller ist es, das Unausdrückbare auszudrücken. Wie wir das machen, beginnt mit einem ersten Schritt absoluter Aufmerksamkeit. Dieser Aufmerksamkeit führt uns zur Türschwelle zum Unbekannten, hinter ihr lauert die Poesie. Jung nennt es das kollektive Unbewusste. Andrew Joron nennt es das Unsagbare. […] Instabilität ist ein Zeichen, dass wir die Türschwelle überschritten haben."

 

2. Stephen Fry spricht im Interview mit Jonathan Bate über seine Poetik, Gedanken über Dichtung und ihre unter anderem therapeutische Bedeutung für ihn, für ihn auch als Betroffener einer bipolaren Störung (hier als Link zum Nachhören). Der Moment der kreativen Annäherung, Inspiration, die in einen dichterischen Schöpfungsakt mündet, habe ich kaum jemals besser in der englischen Sprache beschrieben gefunden. Es geht um eine Annäherung an ein spirituelles Abenteuer, das Zulassen eines spekulativen Weges, ein Fokussieren in Stille. Anknüpfend an einen Gedanken von John Keats, dass ein Dichter auf unbewussten Pfaden ein Wiedererkennen, eine Vertrautheit tiefer Gedanken beim Leser heraufbeschwören könne, führt Stephen Fry aus: Dichter können eine Erfahrung beleben oder Wege ermutigen, die man nie zu begehen gewagt hätte, Orte, die man nie in seiner Reichweite gewähnt hätte. Fry zitiert W.H. Auden, der einmal gefragt worden sei, ob er jemals seine düstere Inspirationsquelle, seine Dämonen habe loswerden wollen. Nein, das habe er nicht, mit ihnen würden ihn dann auch seine Engel verlassen. Es sind Bereiche, in denen die Luft arg dünn ist. Unbestimmbar dünn. 

 

3. Belinda Jacks Vorlesung über John Keats "Ode an eine Nachtigall" war der Ausgangspunkt, der mich zum obigen Interview mit Stephen Fry führte (hier als Link zum Nachhören). Verschlungene, ineinander verwobene Wege waren es, die sich dieses Jahr mit dem Wort "ephemer" auftaten. Eine Kollegin schilderte ihre Lesebegeisterung zu F. Scott Fitzgeralds "Zärtlich ist die Nacht". Der Titel ist der Ode von John Keats "Ode an eine Nachtigall" entnommen: "Tender is the night …" Belinda Jacks Vorlesung bedeuten 45 Minuten fesselnde Interpretation eines Gedichts. Ihre Hinweise zu Keats befeuern meine Begeisterung, wo diese am entzündlichsten ist. Dem kreativen Moment der Schöpfung gehe eine poetische Sensation voraus (in diesem Übertragungsversuch geht viel der Originalformulierung "poetical sensation" verloren). Der Dichter brauche, laut Keats, eine negative Fähigkeit, einen passiven, aufnahmefähigen Geisteszustand (mind / open mindedness). Es geht um die Fähigkeit, Unbestimmtheit, Zweifel, Rätselhaftigkeit (mysteriousness) zuzulassen, für diese befähigt zu sein. Halbwissen (half-knowledge) als Voraussetzung sich auf die Wahrheitssuche zu begeben. Am Ende spielt Professor Jack eine Aufnahme ein, in der F. Scott Fitzgerald die Ode von Keats liest … und dann unverhofft an einer Stelle abbricht.

 

Es ist der letzte Looping meiner in Gang gesetzten Assoziationskette. Es geht um die Flüchtigkeit des abgebrochenen, unterbrochenen, weggebrochen Gedankens, der dann zu einer neuen Qualität an Fülle reift. Fred Vargas stellt ihrem Kommissar Adamsberg einen Nachbarn zur Seite, dem der Arm nach einem Spinnenstich juckt. Der Arm hat nie aufhört zu jucken, obwohl, oder vielleicht besser gesagt, weil er ihm kurz nach dem Spinnenstich im spanischen Bürgerkrieg abgeschossen wurde. Die Zerstückelung des jungen Soldaten in Heinrich Bölls Kurzgeschichte "Wanderer kommst du nach Spa…" findet im Wort-Fragment "Spa…" des ursprünglichen Zitats bei Schiller "Wanderer kommst du nach Sparta" seine Entsprechung. (Diesen Gedanken verdanke ich einem Seminar von Professor Alfons Glück. Ein weiteres Beispiel findet sich bei Heinrich Böll. Für den Hörfunkredakteur Dr. Murke aus der Kurzgeschichte "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" hat das aufgenommene Schweigen eine andere Qualität als die vergleichbare (nur) lautlose Stille. In John Steinbecks "Früchte des Zorns" bricht der Prediger Casy das Gebet für den gestorbenen Großvater an der Stelle ab, wo es ihm angesichts der eigentlichen Schuld nicht mehr über die Lippen kommt: "und vergib uns unsere …".

Dieser Beitrag sollte, wie erwähnt, den Titel erhalten: "Dem Augenblick Dauer verleihen". Lange hatte ich vor, mit dem Zitat aus T.S. Eliots "The Wasteland" zu beginnen. Dieses Zitat werde ich hier nicht im Original wiedergeben, sondern so, wie es in meinem Hörgedächtnis abgespeichert ist, so wie es immer und immer mal wieder in mein Ohr tritt: "On Margate Sands I connected nothing with nothing." (Vgl. dazu Schnipsel 32.) Im oben erwähnten Gedicht "Manifest (O)" steht der Vers: "We are no longer so sure / of what it is we are trying to say." Dem gegenüber steht der Anspruch der Verse Goethes, wonach der Mensch allein dem Augenblick Dauer verleihen könne. Ephemer, ein flüchtiger, wehender Gedankenflug. Zwischen Bestand und der unmöglich erscheinenden Fassbarkeit ist eine Lücke, es fehlt vielleicht das Bindeglied, ein "missing link" sozusagen. Die Begeisterung für solche "gaps" trage ich wohl schon lange in mir, sonst hätten mich nicht bereits seit 1985 die Textpassagen von Wolf Maahns "Rosen im Asphalt" so lange immer und immer mal wieder begleitet:

 

Such‘ ein Lächeln, dass mir den Kopf verdreht, such'n kurzen Blick, der nie vergeht

Flammen unter′m Eis, Boden ohne Netz, Wunden im Metall, Lücken im Gesetz

Irgendeine kleine Sensation in der Straßenbahn ohne Endstation

Bei der Autofahrt ohne Nummernschild auf der Autobahn, die auf keiner Karte steht

 

Die Freunde von John Keats haben in seinem ansonsten namenlosen Grabstein in Rom schreiben lassen: 

 

Here lies One

Whose Name was writ in Water

Fotos: Das erste Foto oben links und das letzte Foto unten rechts sind gemeinfrei auf Wikimedia Commons zu finden - eine Nachtigall und das Grab von John Keats in Rom. Die anderen flüchtigen Momente habe ich immer mal wieder aufgenommen - (c) Stefan Scheffler. Oben rechts hat Anne Weber mir ein Exemplar für Anne Weber signiert, für die freundliche Begegnung und die gute Lesung in Lich bin ich ihr sehr dankbar. Kinder in Münzenberg haben die Fantasielandschaft auf einem Acker in Münzenberg gestaltet (Reihe unten), dazwischen in der Mitte das Foto, das ich zwar nicht in Margate, allerdings auf dem Weg dorthin oder von dort fort in Ramsgate aufgenommen habe ... 

Schnipsel 216: Januswort Untiefe

(c) Stefan Scheffler

"Kommse rein, dann könnse rausgucken." In der Schnauze, im gewachsenen Schnabel konservieren sich tiefe Wahrheiten genauso wie im Hochsprech der Theoriegewaltigen. So vereinen sich vielleicht am Ende die beiden Enden der Wurst auf dem Moebiusband doch noch in trauter Eintracht und "geben sich die Hand", seltsames Bild. Selbst die entzweitesten Personen können sich immer nur die gleiche Hand reichen. Da liegt eine Neigung zur Versöhnung bereits in der Tiefenstruktur des handshake angelegt. In unserer Kultur ist es sogar die, statistisch gesehen, kampfstärkere Hand, die freiwillig der Ohnmacht des uralten Begrüßungsrituals übergeben wird, das hoffentlich auch noch dem Abschied friedlich dient.

Als ich den Text zu Joseph Conrads "The Secret Sharer" schrieb, stolperte ich über das Wort "Untiefe". Seltsamerweise bekam ich die Idee, dass man sich in gefährliche Untiefen begibt, - Orte also, wo doch das Meer bis zum Grund so viele Meter zur Verfügung hat, dass jedes sich Verlieren und unfreiwillige Abtauchen mit der größten Wahrscheinlichkeit des ewigen Abschieds verbunden ist, wenn doch die Untiefe für den Seefahrer eher die gegenteilige Gefahr bedeutet, dass der Kiel unfreiwillig aufsetzt, weil es an einer Stelle "untief", also eher seicht ist, - nicht unter einen Hut. Das Bild passt nicht.

Es gibt wohl einen Gott bei den Römern, der nicht bei den Griechen abgekupfert wurde: Janus. Wir begrüßen ihn versteckt im ersten Monatsnamen so vieler Sprachen immer gleich am Anfang des Jahres mit Pauken und Raketen. Der Gott der zwei Gesichter, der zwei sich auf scheinbar ewig entgegengesetzt entfernenden Blickrichtungen. Auf einer alten Münze ist er abgebildet, auf der Rückseite dieser alten Münze findet sich sogar ein Schiff. Ein Verkehrsmittel, das immer geradeaus fahren kann, bis es an den Ort zurückkommt, von dem es aufgebrochen ist. Janus ist - soweit ich das verstanden habe - ein sehr alter Geselle. Er bewacht die Pforten, die Ein- und Austritt bedeuten, zwei Richtungen, die auf der Türschwelle hoffen dürfen, seinem Wohlwollen und Schutz ausgeliefert (passt das Wort hier wirklich?) zu sein.

"Untiefen" - in der deutschen Sprache bemühen wir den alten römischen Gott, wenn zwei unversöhnliche wortgleiche Begriffe aufeinandertreffen. Die Sprache konserviert das Phänomen des uneinig Identischen, behält sich aber Hintertüren phonetischer oder pragmatischer Nuancierung vor zum Beispiel, wenn wir etwas umfahren wollen. Ein kleiner oder großer Quantensprung. Linguistische Unschärfe.

Fotos: Am Rand zwei Fotos einer rekonstruierten römischen Jupiter-Säule vor dem Heimatmuseum Echzell. Mit etwas Fantasie ist dem oberen Relief die Blick-Ikonographie des Januskopfes abzugewinnen. Näher komme ich in meiner Region zurzeit an keine römische Darstellung heran, ich bin schon froh, dass die Römer mit ihrem Anspruch auf Weltherrschaft so nah an meinen Ort heranrückten ... (c) Stefan Scheffler.

Zweites Foto von links: Wohl eines der ältesten ikonographischen Darstellungen eines Adlers (hier mit Löwenkopf) aus Lagash. Foto aus dem Archiv des "British Museum" in London © The Trustees of the British Museum in einer CC BY-NC-SA 4.0 - Lizenz. Seltsamerweise findet sich eine wunderschöne Abbildung einer Schildkröte auf der Seite der Suchfunktion des Britischen Museums, immer wenn man sie anklicken will, verschwindet sie auf Nimmerwiedersehen.

Foto Mitte: Darstellung eines Janus Kopfes mit Schiff auf der Rückseite von cgb.fr: As frappé en bronze représentant Janus, Hintergrund verändert (CC BY-SA 3.0).

Vorletztes Foto: Der Siegelring Kaiser Friedrichs III, aufgenommen von Wolfgang Sauber. Der Kaiser thront auf einem kleinen Januskopf. Die Habsburger werden sich später wie andere Dynastien der Ikonographie des Doppeladlers bedienen. Eigentlich wollte ich noch ein reißerischen Foto von Billy the Kid hier veröffentlichen, wie er mit seinen Kumpanen Doppelkopf spielt, passt aber nicht wirklich hierher, glaube ich. Oder es war nicht Doppelkopf.

Schnipsel 217: Wer bin ich? - Eco in Prag & Paris

(c) Stefan Scheffler (Die Fotos außen wurden in den 1990er Jahren in Prag aufgenommen, die Graffiti daneben findet man in der Mikwe in Friedberg.)

Vor gut einem Jahr, wollte ich noch einen Text zu Umberto Ecos "Der Friedhof in Prag" schreiben, dann entschied ich, dass eine große Unterbrechung nötig sei. Ich glaube, dass sich in dem folgenden Text zu viele Assoziationen und Ideen, zu viele neue Leseeindrücke und verblasste Gedanken vermischen und vielleicht am Ende verlieren. Es juckte mich aber, den Text zu schreiben, jetzt steht er mit allen Schwächen und Zweifeln hier.

 

Die Wanderarbeiter in John Steinbecks "Früchte des Zorns" sind arm, ihnen stehen die Zeichen des Hungers und der Ausgezehrtheit ins Gesicht geschrieben. Trotzdem besitzen sie die Freiheit, sich die Schuhe auszuziehen und ihre Füße in den Sand oder ins Gras oder auch in den Fluss zu strecken. Eine Geste, die dem immer reicher und feister werdenden Fälscher Simon Simonini nie zur Verfügung steht, um eine andere sinnliche Erfahrung als die der Übersättigung zuzulassen. Das Setting Umberto Ecos Romans "Der Friedhof in Prag" aus dem Jahr 2010 ist das 19. Jahrhundert, in diesem Jahrhundert stehen nackte Füße außerhalb der Bannmeile des Erzählwürdigen. Der letzte namhafte nackte Fußabdruck liegt meiner Erinnerung nach mit Daniel Defoes Freitag weit über ein Jahrhundert zurück. In diesem Motiv liegt aber eine Beobachtung, die ich versuchen möchte, auf die Problematik des Zündlers und Fälschers Simonini anzuwenden: Wenn man nach einem Bad im See die bereits getragenen Socken noch einmal anzieht, stellt sich seltsamerweise ein Gefühl des Unwohlseins, der leisen Irritation höchstens dann ein, wenn man die Socken zuvor am anderen Fuße getragen hat. Diese Irritation ist aber viel geringer als zum Beispiel die eklatante Vertauschung der Schuhe am falschen Fuß. Das seltsame Tragegefühl eines falschen Strumpfes kann der Mensch schnell kompensieren, ein falscher Handschuh an der Hand, ein falscher Schuh am Fuß bleibt unakzeptabel. Also scheint es subtile Übergänge bzw. Nuancen zu geben, dort wo unsere Selbstwahrnehmung auf Fallstricke ihres Selbstbetrugs trifft. Wie weit sind wir gewillt, uns den Zweifel einzugestehen, wenn wir uns der Situation ausgesetzt sehen, dass irgendein Detail unserer Routine nicht mehr mit der Verortung des gewählten Alltags in Einklang zu bringen ist? Simonini trifft voller Zweifel und Irritation auf Spuren einer seltsamen Maskerade, Perücken, falsche Bärte usw. Ein versteckter Durchgang wird ihn in die Wohnung eines Geistlichen führen, mit dem er in einen Briefkontakt tritt. Beiden scheint es verwehrt zu sein, trotz der großen Nähe, sich gleichzeitig zu begegnen. Die Gegenstände um ihn herum, die eigene Wohnung bieten keine Vertrautheit mehr. Der Schutzraum geht verloren, der Ort stellt den Sinnen Fallen. Ein Motiv, das ich vor Kurzem im Film "Die fabelhafte Welt der Amelie" vorgefunden habe. Die Fülle der Sinnlichkeitsfallen, die Amelie ihrem Nachbarn Collignon, dem Gemüsehändler und Peiniger seines Angestellten Lucien, aussetzt, reizt seine Verzweiflung über die wegbrechende Vertrautheit seines nicht mehr so trauten Heims so weit aus, dass ihm, dem Großmaul, durch eine Zermürbungstaktik der tyrannische Schneid genommen werden kann. Es muss wohl der Ort Paris gewesen sein, der mich auf die Idee brachte, Amelies verwegenen Rachefeldzug und Simoninis Scheitern miteinander zu verbinden.

So ähnlich, nur allerdings von innen heraus, funktioniert der Angriff auf die Vertrautheit des Lebens von Simonini zu Beginn von "Der Friedhof in Prag". Eco stellt dem Leser seinen Protagonisten auf dem Höhepunkt seiner rassistisch-geprägten Weltanschauung vor. Gleich auf den ersten Seiten holt Simonini zum großen Rundumschlag gegen alle aus, selbst die Nationalitäten seiner zwei Beheimatungen: Italien und Frankreich. Irgendwo habe ich einmal aufgeschnappt (ich glaube es war bei Kurt Tucholsky), dass jemand sehr früh vom deutschen Faschismus angewidert war, weil dieser "nach Hosenboden" rieche. Spätestens mit der Verfilmung des Romans "Die Deutschstunde" von Sigfried Lenz war mir komplett einleuchtend, was mit dieser Wesensbeschreibung, die die Engstirnigkeit des Nationalstolzes mit dem muffigen Geruch ausgesessener Hosen in Verbindung brachte, gemeint ist. Immer dort, wo das Gegröle und Pöbeln am lautesten sind, vermute ich selbst in der Nähe kultivierter Anzüge oder Hosenröcke Muffigkeit. Simoninis Verachtung gegenüber den Nationalitäten kennt keine Grenzen. Fast könnte man zweifeln, dass er dann überhaupt als ein Rassist zu bezeichnen ist. Doch ein Gefühl hat neben der Verachtung Platz: Hass, und dieser Hass richtet sich bei Simonini gegen die Juden. Der Geruch seiner Lebenswirklichkeit wird geprägt vom fetten und zu reichlichen Essen, das der Kompensation aller anderen ihm verwehrten Lebensgenüsse dient.

Zurück zum Romananfang, sperrig ist er. Warum sollte der Leserin oder dem Leser auch eine Hand in die Romanhandlung hinein gereicht werden, in der das krötige Gift des Chauvinismus und des Antisemitismus lauert? Einer Annäherung an diese Person werden Hürden in den Weg gestellt, ein halbwegs identifikatorischer Lesefluss wird boykottiert, es scheint von Beginn an fraglich, ob die anstehenden gut 500 Seiten gemeistert werden können. Der verwinkelte Weg in das verwinkelte Haus im verwinkelten Kiez von Paris, in dem Simonini seine dubiose Bleibe hat oder das Gewitter an Namen und Querverweisen (das sich durch den Roman zieht) schotten ab. Zudem stellt der Autor den Lesern einen scheinbar unwissenden Erzähler vor, welches Verwirrspiel.

In diesem Text geht es mir darum, zu zeigen, wie Umberto Eco das Spiel seiner narrativen Virtuosität in Grenzbereiche ausreizt, die im Einklang stehen mit der verwirrenden, abschreckenden Struktur des aufkeimenden europäischen Judenhasses. Auf den ersten Blick scheinen die suppige Gemengelage von Gerüchten, politischen Intrigen, Verschwörungsweisheiten, Verdunklungstaktiken unentwirrbar, so dass man sich diesem Gespinst kaum annähern möchte. Eco spielt mit der Überblendung von historischen Fakten, einer unglaublich fleißigen Recherche zu Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts quer durch Europa und weniger, ganz weniger fiktiver Personen, wie eben Simonini (und sein Doppel Abbé Dalla Piccola). Er seziert die Quellenlage und die einzelnen Etappen des großen Schwindels um die Entstehung der verhängnisvollen Fälschung der "Protokolle der Weisen von Zion", die am Ende die Verschwörungstheorie begründeten, wonach die Juden eine Weltherrschaft anstrebten, die bis heute nicht aus den Köpfen einiger zu bringen ist. Eco nähert sich wie immer seinem Thema mit unbeirrbarer Umfänglichkeit. Nach wenigen Monaten sind bei mir schon die meisten Verzweigungen der großen Fälschungsintrige nur noch verschwommen in Erinnerung geblieben. Hängen geblieben sind die Bilder, die den fleischigen Fälscher am Ende auch in seiner Tragödie zeigen, er hat sich selbst verloren. Wenn er im zweiten Kapitel zum ersten Mal den Stift in seine Hand nimmt, um sich schreibend seiner Zweifel hinsichtlich seiner Persönlichkeit und der seltsamen Vorgänge um ihn herum anzunähern, stellt er sein Unterfangen unter die Frage: "Wer bin ich?" Simonini und Dalla Piccola sind die beiden Gesichter des gleichen (Janus-)Kopfes.

Weder den weiteren komplexen Handlungsverlauf noch die Quellenrecherche werde ich an dieser Stelle auch nur ansatzweise anreißen können. Es geht mir, wie gesagt, um etwas anderes, um Ecos Spiel mit dem Leser, seine narrativen Eskapaden. Wer spricht in diesem Roman? Die Stimmen der Ich-Erzähler - die der gleiche Mensch in zwei abgespaltenen Persönlichkeiten sind - sind noch am einfachsten zu "identifizieren". Zu Beginn steht als Geleit ein Zitat eines Carlo Tenca, der ein Rezept liefert, eine historische Erzählung reißerischer zu gestalten … ein Auftakt des Augenzwinkerns. Dann die Stimme der ersten Seiten, die Tatsächlich erst den "Erzähler" einführt, dieser solle gelegentlich die Längen der Berichte etwas straffen und zusammenfassen … doch […] "der Leser [möge] nicht erwarten, dass der ERZÄHLER (immer wieder in Kapitälchen stehend) ihm gestehe, wie überrascht er in dem Schreibenden einen schon früher Genannten wiedererkannt habe, denn da ja diese Geschichte eben jetzt erst beginnt, ist vorher noch niemand genannt worden, und selbst der ERZÄHLER weiß noch nicht, wer dieser geheimnisvolle Schreiber ist, und nimmt sich vor, es gemeinsam mit dem Leser zu erkunden." Das ist völlig unlogisch. Wie kann denn der Erzähler wissen, dass es etwas Verwirrendes zusammenzufassen gilt, wenn er eben erst mit dem Leser die Reise in den Roman antritt? Eine Falle!

Hundert Seiten später ist es so weit, der ERZÄHLER nimmt sich vor, zu resümieren, um dem Leser "den heuchlerisch tugendhaften Ton" des Abbé zu ersparen. In einem ganz anderen Zusammenhang habe ich beide Wörter "heuchlerisch" und "Leser" bereits schon einmal gehört … T.S. Eliot klingt mir im "The Wasteland" im Ohr: “You! hypocrite lecteur! - mon semblable, - mon frère!” Ich als Leser jedenfalls verliere spätestens jetzt den Boden unter den Füßen, verliere mich. Weitere 60, 70 Seiten später heißt es: "Somit erlaubt sich nun der ERZÄHLER, ohne zu wissen, welchem der beiden er am Ende recht geben soll, die Ereignisse so zu berichten, wie er sie zu rekonstruieren vermocht hat, und natürlich übernimmt er die Verantwortung für seine Rekonstruktion."

Aus einer Gast-Vorlesung von Umberto Eco in Canterbury (vgl. Schnipsel 26) weiß ich, wie listig und clever der große Autor und Semiotik-Professor sein Handwerk und das große Spiel damit beherrscht … "How do you know that I’m not a liar?", konterte er damals und gab der Möglichkeit, im Zweifel den Autor zu fragen, eine Abfuhr, eine Grenze. Wo bleibt die Wahrheit …? In der Mitte des Romans die Worte: "Ja, offen gesagt, wenn auf diesen Seiten nicht unzweifelbar wahre Dinge berichtet würden, könnte man meinen, dass es die Kunst des ERZÄHLERS sei, die diesen Wechsel von gedächtnisschwacher Euphorie und erinnerungsreicher Dysphorie so arrangiert." Auf den letzten Seiten liefert dann Eco zu allem Überfluss noch eine Tabelle, in der er die Romanhandlung der einzelnen Kapitel mit den Schritten der großen Intrige und der historischen Belege dazu in einer letzten Spalte als Übersicht zeigt. Er doziert wieder zum ERZÄHLER, zur Differenz zwischen story und plotfabula und sjužet oder Intrige. Die Stimme, die bereits den "unwissenenden Erzähler" einführte, schließt: "Doch für den Fall eines übermäßig strengen Lesers oder eines mit nicht fulminanter Auffassungsgabe folgt hier eine Tabelle, aus der die Verhältnisse zwischen den beiden Ebenen ersichtlich werden (die es freilich in jedem Roman gibt, der - wie man früher sagte - gut gemacht ist)." 

Ludus - ein Spiel. Immer wieder findet es statt, das Verwirrspiel der klugen Narrativik. Eco weiß, was er vermag, er hat den gut gemachten Roman verfasst. Wie zufrieden war ich in meiner Kindheit mit dem Anfang einer Hörspielkassette, die mit den Worten anhob: "Wahr muss die Geschichte doch sein, anders könne man sie doch nicht erzählen." Wie viele Spielarten haben mich seit damals auf eine harte Probe gestellt, inwieweit ich der literarischen Abbildung von Realität Vertrauen schenken durfte. Im Nachhinein fast harmlos die Versuche der "gefakten" Authentizität wie z.B. bei Daniel Defoes "Moll Flanders" oder auch Bram Stokers "Dracula". Es ist noch nicht sehr lange her, dass ich lernte, wie früh Schriftsteller auf den Gedanken kamen, alle Erzähl-Ebenen zu durchmischen, ja gar aus den Zeilen heraus ihre Stimme zu erheben, um in einen Dialog mit dem Leser zu treten zum Beispiel bei Denis Diderots Fatalist Jacques und dann viel später in den modernen Romanen von Paul Auster und Salman Rushdie oder in Daniel Kehlmanns "Ruhm", in dem sich die Personen aus den Ebenen lösen, neue Bindungen und Suchen eingehen - ein großes Ringen im Kampf mit der Auseinandersetzung um die Identität. Erich Auerbachs Analyse der Erzählweisen des Alten Testaments im Vergleich zur in etwa zeitgleichen Dichtung Homers in seinem Aufsatz "Die Narbe des Odysseus" ist atemberaubend, unglaublich, dass wiederum oben genannter Paul Auster Auerbachs Betrachtungen in "4 3 2 1" thematisiert.

Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" fällt mir ein: Verträumt ist die erzählte Wirklichkeit hier, die sich bereits wenige Seiten nach dem Aufbruch im beginnenden Frühling nicht mehr an diesen erinnern kann und Kornfelder vorbeistreichen lässt an der Kutsche, in der der Taugenichts auf den Augenblick wartet, die Kartoffeln eines Gartens zugunsten von dekorativen Blumen auszutauschen. "Ulysses" erwähne ich erst gar nicht, wohl aber Agatha Christies Meisterwerk "The Murder of Roger Ackroyd“, dessen Erzählperspektive für einen mordsmäßigen Überraschungsmoment sorgt. Bei Fred Vargas habe ich in der Adamsberg Krimireihe sämtliche Jahres-Folgen nachgerechnet, bis ich den Bruch in der Abfolge fand. Seltsam, dass ich damit an der "Realität der Lesewelt" zu zweifeln begann, gleichzeitig aber die tiefgründige Skurrilität mancher Fälle inklusive der Vampire, wilden Horden oder stillstehenden normannischen Kühe bei Fred Vargas wohlwollend akzeptierte. Hypocrite lecteur … Was habe ich als 16-Jähriger unter Brechts V-Effekt gelitten, der mir von der Bühne aus ins bequeme Zuschauen quatschen will. Frieden fand ich dann erst über die Lyrikseminare von Professor Glück, der uns Brecht in der Klarheit seiner Dialektik näherbrachte. Und hier fängt sich nun ein Kreis an, langsam zu schließen.

Alfons Glück las mit uns das Brecht Gedicht "Der Schuh des Empedokles". Zwei Varianten dergleichen Episode über das gewollte Ableben des Philosophen Empedokles am Ätna. Beide Varianten in reinster Klarheit formuliert. Neben der Möglichkeit, dass Empedokles am Krater barfuß in sein Ende sprang und einen Schuh bewusst zurückließ, damit einer späten Legendenbildung vorgebeugt würde, wird die Variante "römisch II" gestellt, wonach Empedokles eher absichtlich sich auf nimmer Wiedersehen davonschleichen wollte, um gerade im Glanz einer Legende auf ewig weiterblühen zu können, nur der Krater habe diesem Frevel Einhalt geboten, indem er den Schuh rückwirkend ausspuckte. (Wow.) In diesem Gedicht findet man vielleicht einen Ansatz, der uns hilft, Umberto Ecos Anliegen auf die Spur zu kommen. Berge oder Krater sind absichtslos bei Brecht: "Denn der Berg glaubt nichts und ist mit uns nicht beschäftigt." (Basta!) Und was sagt dem entgegengesetzt Brecht über den Menschen, wenn auch vielleicht nicht über alle?

 

Wenn er den Schuh tatsächlich nicht auszog, hätte er eher

Nur unsere Dummheit vergessen und nicht bedacht, wie wir eilends

Dunkles noch dunkler machen wollen und lieber das Ungereimte

Glauben, als suchen nach einem zureichenden Grund.

 

Der Mensch neigt dazu, das Mysteriöse zu suchen, wo Klarheit und helles Denken viel ertragreicher wären. Auch ich als Leser habe leider bei Eco nicht die "fulminante Auffassungsgabe", die auf lange Sicht das ganze Opus bräuchte und die eine Aufforderung zur mehrmaligen Durcharbeitung bedeutet. Möglicherweise ist einer meiner Stärken, dass ich die Stellen wittere, die mich in den Kern eines Romans führen.

In Aldous Huxleys Roman "Brave New World" ist es das große Gespräch zwischen dem "Savage" und einem der Weltherrscher Mustapha Mond. Bei Eco ist es das Treffen zwischen Simonini und Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski, Führer der dunklen Seite der russischen Zarenmacht. Bei ihm laufen die Fäden des in Gang gesetzten Plans einer global angelegten Diffamierung der Juden zusammen. Wenn man sich nicht gut mit europäischen, insbesondere eben auch der französischen oder italienischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auskennt, wundert man sich, wie ausgeprägt und vielgesichtig der aufkommende Antisemitismus in diesem Jahrhundert sich entwickelte, wie weitreichend seine hässlichen Gesichter der Verunglimpfung bereits ausgeprägt waren. In Frankreich stand im Zentrum dieser antisemitischen Hetze und gleichzeitig diese befeuernd der bei uns nicht so bekannte "Dreyfus-Skandal", den Eco ausgiebig in den Blick seiner Romanhandlung stellt. Um diesem Skandal ein einigermaßen versöhnliches Ende zu geben, brauchte es viele Jahre unermüdlicher Arbeit der Aufklärung, die im Einsatz von Emile Zola eine Speerspitze fand. Es war sein Artikel "J’Accuse", der einen unsterblichen Beginn für jede weitere trotzige Anklage im Bewusstsein des nie in Zweifel zu ziehenden Rechts schuf und am Ende  die Rehabilitierung eines elsässisch-jüdischen Offiziers Dreyfus der französischen Armee bewirkte, der durch die Mittel billigster Fälschungen und machtgierig gegen besseres Wissen tradierter Lügen als Verräter in Ungnade gefallen war und erst späte umfängliche Wiedergutmachung erfuhr. Der große Dreyfus-Skandal steht neben der Fälschung der "Protokolle der Weisen von Zion" an erster Stelle dieses großen Vorhabens, eine Gruppierung von Menschen zum Sündenbock zu machen. Im Gespräch mit Ratschkowski stellt Simonini die entscheidende Frage: "Aber warum zielen Sie gerade auf die Juden?" "Weil es in Russland so viele Juden gibt. Wäre ich in der Türkei, würde ich auf die Armenier zielen." "Also wollen Sie, dass die Juden vernichtet werden […]?"

 

[...] Ich will die Juden nicht vernichten, ich würde sogar sagen, die Juden sind meine besten Verbündeten. Ich bin daran interessiert, die Moral des russischen Volkes aufrechtzuerhalten, und ich wünsche nicht - beziehungsweise die Personen, die ich zu befriedigen suchen, wünschen nicht -, dass dieses Volk seine Unzufriedenheiten gegen den Zaren kehrt. Also braucht es einen Feind. […] Jemand hat gesagt, der Patriotismus sei die letzte Zuflucht der Kanaillen - wer keine moralischen Prinzipien hat, wickelt sich gewöhnlich in eine Fahne, und die Bastarde berufen sich stets auf die Reinheit ihrer Rasse. […] Doch das Identitätsgefühl gründet sich auf den Hass, Hass auf den, der nicht mit einem identisch ist. Daher muss man den Hass als zivile Leidenschaft kultivieren. Der Feind ist der Freund der Völker.

 

Die Verweise auf Deutschland 1933 sind zu offensichtlich. Wichtig ist, die Mechanismen in ihrer Aktualität heute nicht aus dem Blick zu verlieren. Überall in Europa versuchen sie es jetzt. Das Prinzip kannte auch vor Jahren schon ein deutscher Kleinfürst, der merkte, dass ihm die demokratische Mehrheit abhanden zu gehen drohte, eine eilends inszenierte Problematik mündete in eine Doppelpass-Kampagne, die ihm auf den letzten Metern eine unlautere Wiederwahl einbrachte. 

"Der Friedhof in Prag" wird auch getragen durch die Magie der Abstiege in die Unterwelt, in die Schattenwelten, in die Bereiche, in der hochgeschlagene Kragen ein Genre prägen, das eine eigene Faszinationskraft besitzt. John le Carré oder Ian Fleming haben ihre Helden in unserer Gegenwart unsterblich gemacht. Der große Bluff, die große Fälschung haben eine harmlose Seite. Ich bin stolzer Besitzer echter Kujau-Fälschungen, vielleicht wäre mir ein gefälschter Kujau lieber. Mit dem Verweis auf die Tragweite der in Europa so früh systematisch geplanten Befeuerung eines Rassenhasses ist aber auch klar, dass Eco sich einem sehr ernsten Thema angenähert hat. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Verspieltheit seiner Form diesem Anliegen angemessene Größe verleiht oder ihm vielleicht sogar hinderlich ist. Ich vermute aber, Umberto Eco kann es sich aufgrund seiner Fähigkeiten leisten, das Thema in der Verspieltheit einer fast undurchdringlich anmutenden Komplexität zu gestalten. Meine Idee ist, dass er nur mit dieser komplexen Form vielleicht dem Inhalt der komplizierten Verstrickungen der Intrigen und Abgründe gerecht wird. Hinter jedem narrativen Spiel steht ein großer Kopf, der die Fäden in der Hand hält. Wir sollten ihn nie befragen (vgl. 26), aber er ist es: Der Autor. Es ist seine Stimme, sein Erzähler ist sein Werk. Der Erzähler ist unwissend, dahinter fordert ein wissender Autor zum Verstehen auf. Ein Verstehen, dem Arbeit und Fleiß abverlangt wird. Der Handlanger der Intrige Simonini hat keine Chance seiner Aufgabe gerecht zu werden. "Wer bin ich?" - Er wird es nie erfahren. Auch wenn ein Gesprächspartner von unverblümter Vertraulichkeit spricht, die wird es mit ihm nie geben. Seine Brille ist grün getönt, schottet ihn ab, auch vor sich selbst. Ein großer Mummenschanz scheitert.

Spuren jüdischen Lebens findet man in den Gemeinden am häufigsten auf abseits gelegenen Friedhöfen. Jüdische Friedhöfe in Rauischolzhausen, Staufenberg und Leihgestern. Fotos (c) Stefan Scheffler

Auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Marburg und auf dem jüdischen Friedhof in Bad Soden Taunus findet man Gräber mit dem Namen Dreifuß in Variationen. Leider ist der Grabstein in Bad Soden nicht mehr erhalten.

Fotos (c) Stefan Scheffler

Geheimnisvolle Eingänge findet man überall, wieder ausgegrabenen mittelalterlichen Schuh im Museum im alten Schloss Gießen. In Friedberg liegt eine Schlossanlage, die man gut abschotten konnte. Der russische Zar Nikolaus hatte hier mehrere Wochen einen Aufenthalt. Seine Frau war zur Kur im nahegelegenen Bad Nauheim.

Fotos (c) Stefan Scheffler 

Ganz in der Nähe des Friedberger Schlosses findet sich eines der größten mittelalterlichen rituellen Bäder, eine Mikwe.

Fotos (c) Stefan Scheffler 

Schnipsel 218: Clarence Odbodys Flügel

(c) Stefan Scheffler

Eigentlich dachte ich, hier müsste jetzt ein kurzer Text über das Wort "unverblümt" stehen. Eines der Echos, die mir als Widerhall seit Wochen durchs Ohr gegeistert sind, ist ein Satz, den ich auf einem langen Spaziergang eingesammelt habe, vielleicht ist es auch möglich, dass ich mit diesem Satz ganz schlicht und ergreifend aufgewacht bin: "Gott ist wohlwollend, nicht allmächtig." Ich mag den innewohnenden Sieg der sympathischen, freundlichen Leichtigkeit über das Dogma, ich kenne aber nicht den Weg, den dieser Satz in mein Denken genommen hat.

Sonnabendmorgen (es ist die Zeit der seltsamen Begriffe) geisterten mir Lieder durch den Kopf. Paul McCartneys "Blackbird" machte den Anfang. "Summerwind". "Blue Skies" (in der Variante von Eva Cassidy, auch wenn ich die von Junko Onishi an manchen Tagen besser finde). "Sitting on the dock of the bay", "Summer dreaming" … leichte Brisen als Vorboten eines ungefährlichen Donnergrollens. Die Wetterlage ermöglicht Engeln zu fliegen. Am Ende stand seltsamerweise Pete Townshends Song "Face the Face" und ich dachte, mir wolle mein Unbewusstes ein Signal geben, mich an den Text "Unverblümt" zu setzen. Alle Schreibanfänge verliefen allerdings ins Leere, verloren sich. Erst als ich mir die Lyrics zu Paul McCartneys "Blackbird" noch einmal anschaute, merkte ich, dass sich eine andere, kleine Idee wie eine Klette an mich geheftet hatte und ihren Anspruch auf Zuendegedachtwerden einforderte. Gestutzte Flügel …, okay im Text steht "broken wings", ... das Bild des Beatles Songs brachte mich darauf, was in diesem Jahr tatsächlich (außer auffällige Begriffe) ständig meine Aufmerksamkeit kreuzte, mir vor die Kameralinse sprang, einfach aus dem Nichts da war, mich begleitete. Manchmal muss man sie einfach nur erkennen in ihrer Vielfalt. Im umgekehrten Flug habe ich mich ihnen bereits einmal kurz in Schnipsel 9 gewidmet. Für den hölzernen Engel mit den goldenen Flügeln kann ich nichts. Auf einer Wanderung zog mich eine seltsame Landschaftsformation eines bewaldeten Hügels an, oben neben Hinweisschildern zu mittelalterlichen Siedlungsspuren: diese Skulptur. Den Engel in den Wolken in Österreich sieht außer mir meistens sowieso selten jemand, der in der Fontaine gab sich sowieso erst spät beim nachträglichen Betrachten des Fotos zu erkennen. Ich habe über diese Wesen nie lange nachgedacht, sie tauchen (zumindest in Europa) ständig irgendwo auf. Man ist nie ganz ohne sie. Mein Kind hat mir dieses Jahr eine Zeichnung eines fallenden Ikarus geschenkt, kein Engel, aber eine starke kopfüber-fallende Ikonographie. Die Idee, mir diese Zeichnung zu schenken, kam ihr, als ich sie auf eine zweite Wanderung vom Holzengel mit den goldenen Flügeln weg mitnahm. Wir wollten uns vom Engel leiten lassen, es wurde sehr matschig, ein vermeintlicher Engel entpuppte sich als ein greller Wegweiser für eine Wasserleitung. Keine weiteren Engel weit und breit diesmal. Nur einmal kreuzten große weiße Störche unseren Weg, überflogen ihn, ein poetischer Moment im nasskalten Grau des Winters.

Irgendwann hörte ich die Worte: "Jetzt weiß ich, was ich dir schenken kann." Für den gezeichneten Ikarus habe ich mich mit einem Film "revanchiert", den ich für sehr lebensbejahend halte, auch wenn er vielleicht etwas "sehr Hollywood" ist; ich mag ihn, ich mag auch, dass es sich in diesem Text so sperrig anhört, dann hat man im Stolpern über die sperrige Wortwahl Zeit, das "heilige Gehölz" aus der Glitzerfabrik herauszuhören. In "Ist das Leben nicht schön" muss sich Clarence Odbody - auch diesen Namen mag ich sehr - seine Flügel verdienen … "You were only waiting for this morning to arise", heißt es bei den Beatles. So sollte ich das erkennen, so steht es jetzt hier.

(c) Stefan Scheffler

Schnipsel 219: Unverblümt, let's face the face

(c) Stefan Scheffler

Die Worte "Mit Verlaub, Herr Präsident …" leiteten einst einen großen Skandal im Deutschen Bundestag ein. Die Einleitung ist zum Riff geworden, hat die Beleidigung unsterblich gemacht, der zweite Teil kann unausgesprochen bleiben, die Wirkung wird mit dem gesetzten Auftakt nicht mehr verfehlt. Ähnlich verhält es sich mit dem sprichwörtlichen gewordenen Götz-Zitat. Meine englisch-annotierte Studien-Ausgabe des "Götz von Berlichingen" setzt die drei Auslassungspunkte ebenfalls dort, wo die Derbheit des Ausspruchs allzu große Gefahr laufen könnte, eine Schamgrenze zu überschreiten. In den alten Ausgaben stehen Götzens Worte unzensiert: "Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken." Das ist rundheraus … 

Als ich vor vielen Monaten über das Wort "unverblümt" bei Paul Auster nachdachte und mit einem Dialog in Eduardo Mendozas "Mauricios Wahl" in Verbindung brachte (vgl. Schnipsel 154), ahnte ich noch nicht, wie hartnäckig sich dieses Wort in meiner Leseaufmerksamkeit festsetzen würde. Die Kombination der verneinenden Vorsilbe "un-" ruft mittlerweile selbst dann noch das "be alert" aus, wenn andere Aufmerksamkeitskanäle bereits zu versiegen drohen. Ein Reflex wie bei den Dobermännern im Columbo-Fall, die dann nur noch den letzten Angriffsbefehl des ausgesprochenen Wortes "Rosebud" benötigen, in meinem Fall das an die Negation angehängte Wort „-verblümt“. 

Seltsamerweise kann ich mich nicht mehr an das erste Stolpern über das Wort erinnern, nur eine Tinteneintragung zwischen die Begriffe, wo es in Roland Kaehlbrands "Lexikon der schönen Worte" hingehört hätte, zeigt mir, dass es ein erstes Mal gegeben haben muss, dass ich dieses Wort erwähnt haben wollte. Überrascht war ich, als ich das Buch im Online-Auftritt der Duden-Redaktion nachschlug und es dort mit drei von fünf möglichen Balken der Häufigkeitsskalierung ausgestattet sah. Einen halben Balken hätte ich vermutet. "Unverblümt" löst aus, dass man eigentlich intuitiv merkt, dass man die wirkliche Bedeutung dieses Wortes lieber noch einmal nachschlagen sollte, auch wenn man den Sinn der Äußerung insgesamt verstanden zu haben glaubt. Gemeint ist das offen ausgesprochene Wort, die unzensierte Haltung. Akribischer Sammeleifer ließen mich Hinweis auf Hinweis notieren, immer wenn mir das Wort unter die Augen kam, oder Textstellen, die mein Nachdenken über dieses Wort befeuerten. Jetzt liegen also 11, 12 Bände mit aufgeschlagenen Seiten vor mir, und mir wird bewusst, darunter ist nur ein Buch, das im Original auf Deutsch geschrieben wurde. Dumas Erzschurkin Lady de Winter - wieder einmal im Versuch der großen Intrige auszureizen, was auszureizen geht - beginnt über ihren Verbündeten, den Kardinal "unverblümt loszuziehen …". Dan Browns Schurke der Camerlengo spricht zu den Kardinälen in "Illuminati" "in aufgeklärten Begriffen, unverblümt und klar" … und leider heuchlerisch und falsch. Eine andere literarische Liga, das gleiche Dilemma: Kazuo Ishiguro ist Meister der reduzierten Darstellung eines inszenierten Selbstbetrugs z.B. in den großen Romanen "Was vom Tage übrig blieb", "Damals in Nagasaki" oder "Maler der fließenden Welt". Jedem einzelnen Roman wäre viel Aufmerksamkeit zu widmen. An dieser Stelle nur der Hinweis auf eine Textstelle der Erzählungen-Sammlung "Bei Anbruch der Nacht", in der sich ein Charakter nicht in der Lage fühlt, sich "unverblümt zu äußern", es ist Emily in "Come Rain or Come Shine" - selbst der Songtitel ist eine große Übersetzungshürde. Der Blick in die Angebote der Übersetzungs-App zeigt nun, dass "unverblümt" ein unverbindliches Angebot der deutschen Sprache bedeutet, wenn es im Englischen aus mindestens 10 oder 12 interessanten Adjektiven eine passende Auswahl zu treffen gilt. (Das ist allerdings auch umgekehrt der Fall, wenn man die Rückübersetzungsfunktion betätigt: "outspoken" trifft auf etliche Synonyme von "unverblümt". Die Vielfalt scheint in beiden Sprachen großzügig geraten, was man vielleicht als ein Zeichen werten kann, dass in beiden Kulturen aus dem Vollen geschöpft werden darf, wenn es gilt, Schleier zu lüpfen, was wiederum ein Hinweis darauf sein mag, dass es beiden Kulturen ein langes Brauchtum der Verschleierung gibt.) Das ganze Ausmaß des verzweigten Dilemmas zeigt sich mit dem kleinen Kunstwerk eines Satzes von Paul Auster, der Nora mit den Worten charakterisiert: "a young woman traveling down a fast road to rack and ruin, too outspoken for her own good"… "eine junge Frau, die auf dem besten Weg war vor die Hunde zu gehen, die unverblümter war, als es ihr guttat" hat kaum eine Chance - obwohl die Übersetzung von "4 3 2 1" insgesamt sich tragfähig liest und mein Hinweis an dieser Stelle alles andere als eine Kritik an der Übersetzung des Rowohlt Verlages sein soll.

Der Kern der Problematik liegt wohl in der Frage begründet, wie wir die Welt sehen wollen, aber auch im Umkehrschluss, wie wir selbst in der Welt erkannt werden wollen. Hinter wie vielen Blumen, kleinen oder größeren Zugeständnissen wollen wir unseren Standpunkt dekorieren, um halbwegs ungeschoren davonzukommen, wenn unser Standpunkt krasser ist, als ein Gegenüber vertragen könnte. Es ist ein hehres Ziel, authentisch zu sein, das ist allerdings leichter, wenn die Haltung, die wir vertreten, im Rahmen der Mainstream-Akzeptanz bleibt. Wehe, wenn unsere echte Authentizität den Schutz von Blümchen dringend nötig hätte, um uns nicht zum Freiwild zu machen, da gilt es viele Register der zwischenmenschlichen Diplomatie zu beherrschen.

"Unverblümt" hat seine Zwei-Balken-Qualifikation der Duden-Redaktion meiner Meinung nach den Übersetzungen zu verdanken. Je länger man über ein seltenes Wort nachdenkt, um so stärker büßt es manchmal seine Wirkung ein. Kraftvoll ist es im Original, das einzige Buch, in dem ich das Wort originalgetreu in Gebrauch finde, ist bei Ijoma Mangold in einem einfachen Gedanken, einem klaren Statement aus "Der innere Stammtisch - ein politisches Tagebuch". Es geht um unverblümten Rassismus, den man nicht tolerieren müsse, Ijoma Mangold nennt es beim Namen. Und dabei ist Ijoma Mangold bei anderen Themen alles andere als ein verlässlicherer Verbündeter, der Gefahr läuft in der politisch korrekten Haltung gegenüber Arschlöchern bequem vereinnahmt werden zu können. In einer Lesung in Bamberg erklärte er genau diesen Punkt, der mir bereits beim Lesen an einer Stelle zu Greta Thunberg sehr schwer zu akzeptieren war. Der Trotz, wenn die Harmonie zu schwer zu ertragen sei, bringe ihn dazu, zu provozieren. Das Resultat, der Diskurs bleibt lebendig, ein Merkmal der demokratischen Meinungsbildung, die Reibung benötigt. Das waren so nicht seine Worte, so kann ich es heute mit Abstand für mich zusammenfassen. Mein Trotz gegen diese Haltung musste ich ihm wenigstens mit einem Satz äußern, als er mir mein Buch signierte. Doch das wäre einen eigenen Eintrag wert, die Harmonie und meine Wertschätzung für diesen Autor bleibt ungetrübt. Wieder so ein "un-"Wort.

Ich hatte tatsächlich noch auf zwei Zettelchen Verweise auf unverblümte Fundstücke bei Fred Vargas und zwar in den Krimis "Die Nacht des Norns" und “Die dritte Jungfrau". An einer Stelle dichtete Veyrenc über das Problem, wenn sich ein Mensch "ver-kennt". An einer anderen Stelle weist Danglard auf das Wort "Un-tiefe" hin. Vielleicht ist dies ein Teil der Lösung. "Face the Face" war das Riff des Pete Townshend Songs, der den Übergang bildete, mich an den harten Text, der harten Fragestellung zu widmen: Wie wollen wir die Welt sehen? Wie wollen wir in der Welt erkannt werden? Wenn man sich selbst verkennt, bedeutet dies eine große Tragik. Untiefen gilt es zu erforschen, wenn wir vermeiden wollen, dass wir nur an der Oberfläche unseres eigenen Wesens kratzen. Das Fass, das es hier aufzumachen gäbe, ist zu groß. Bei Kafka lauten die Worte in "Vor dem Gesetz": "Täusche dich nicht." Über dem Orakel in Delphi ist der Wortlaut überliefert: "Erkenne dich selbst." Wenn eine Antwort immer EINfach wäre, hätte es Janus nicht in die Poleposition des Jahres geschafft. Wenn wir aber einmal eine Tiefe und eine eigene Position gefunden haben, dann sollten wir uns nicht scheuen, Tabus zu brechen, Grenzen zu überschreiten und unverblümt für unsere Haltung einzustehen. Es wäre noch so vielen Wörtern, so vielen Gedanken nachzulauschen, deren "un-" mein "be alert" triggert: "unbequem … ungewiss … unaufgeregt ... unverzagt". Die Sehnsucht steckt am Ende in der Größe des Wortes "unbeschwert", diesen Hinweis verdanke ich Frau Pia Schneider. Das Lebensgefühl der Unbeschwertheit ist nicht mit Gold aufzuwiegen.

Bleibt noch der Hinweis, dass ich zufällig bei der Nachschlage-Suche für diesen Text den "Götz von Berlichingen" dort aufgeschlagen habe, wo sich folgender Dialog findet:

 

"Ich nehme Euch, wie ihr euch gebt."

"Das Ansehen trügt."

"So seid Ihr ein Chamäleon?"

 

Wann brauchen wir die Blumen, wann die Verstellung? Die Toleranzmarke ist spätestens mit dem Heuchler Polonius (vgl. 179) und dem Schleicher Wagner überschritten, wenn dieser tänzelnd die Bühne betritt: mit den Worten: "Verzeiht! Ich hör euch deklamieren; / Ihr last gewiss ein griechisch Trauerspiel ..." (vgl. 146).

Rückgrat ist ein sperriges Wort, es bewirkt Haltung, mit Verlaub!

Fotos v.l.n.r.: "Omphalos", der Nabel der Welt fotografiert von Arishai Teicher in Delphi, eine eiserne Hand als Ausstellungsstück des "Art Institute of Chicago", ein Sessel in Bamberg, auf dem kurze Zeit später Ijoma Mangold Platz nehmen wird, ein Fenster in Ludwigshafen mit der Aufforderung, sich selbst zu erkennen, möglicherweise fotografiert von Immanuel Giel. Die Bilder des "Omphalos", der Hand und des "gnothi seauton" sind als gemeinfrei gekennzeichnet auf Wikimedia Commons. In Ermangelung gemeinfreier Turnschuhe von Joschka Fischer, die im Ledermuseum Offenbach ausgestellt sind, ein Paar im eigenen Haushalt. Die Schuhe und die Bühne in Bamberg: (c) Stefan Scheffler

P.S.: Mittlerweile gibt es eine nette Zusage aus Offenbach, die Fischer-Turnschuhe hier zeigen zu dürfen, doch ich habe mich zu sehr an die Optik der gewählten Ersatz-Treter gewöhnt. Vielen Dank trotzdem an das Ledermuseum in Offenbach. Das Original findet man unter folgendem Link: www.ledermuseum.de/museum

Fotos v.l.n.r.: Eine verblümte Katze & Wolken über Sakralbauten, mit denen man Polonius auf die Probe stellen könnte. (c) Stefan Scheffler

Schnipsel 220: Oskar Maria Grafs Glühbirne im Abgrund

(c) Stefan Scheffler

Gutsituierte Radikalität in beheizten Hinterzimmern schützt zumeist erworbene Besitzstände. Sie unterscheidet sich von der Radikalität in Zelten oder Verschlägen. Diese zweite ist zumeist aufgrund der fehlenden Vernetzung machtlos, die erste verpufft häufig im Zweifel der Unentschlossenen, wenn die Mägen zumindest halbvoll sind.

Es ist ein kurzer Hinweis, eine kleine Beobachtung zu einem wichtigen Buch. Wenn man den Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus verstehen will, helfen einem einige Bücher wie keine Geschichtsstunde oder Dokumentation. Hierzu zählen Joseph Roths "Das Spinnennetz", "Fabian" von Erich Kästner, Ernst Weiß "Ich, der Augenzeuge" und eben Oskar Maria Grafs "Der Abgrund". Es ist eine schwere Kost, die am Ende Begreifen liefert, auf die immer wieder gestellte Frage: Wie konnte es so weit kommen? Das Zerren um den richtigen Weg der Gegenbewegung im Kampf gegen den sich etablierenden und mächtig werdenden Faschismus, die große Kluft innerhalb der Arbeiterbewegung mit ihren zwei Polen SPD und KP steht im Zentrum dieses Romans. Vieles wird in meinem Lesegedächtnis verblassen, nicht aber zwei kleine Details, die die außergewöhnliche erzählerische Kraft von Oskar Maria Graf zum Ausdruck bringen.

Die Große Hoffnung der Arbeiterbewegung, um den Weg in den Totalitarismus zu stoppen, liegt in der Vereinigung der Macht der Werktätigen, die wiederum im einigen Generalstreik ihre stärkste Waffe finden würde. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Menschen noch den Kampfruf aus dem "Bundeslied" von Georg Herwegh kennen, der die Macht der Arbeiter hinter die Worte antreten lässt: "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Georg Herwegh selbst hat durch Heinrich Heines Gedicht "An Georg Herwegh" als "du eiserne Lerche" ein dauerndes Denkmal gesetzt bekommen.

Doch zurück zur Romanhandlung von Graf. Klara, einer jungen Genossin, kommen durch die Nachbarin Gerüchte unter, es tue sich etwas, das Wort des Generalstreiks macht die Runde. Um das Gerücht zu überprüfen, schaltet Klara den Lichtschalter an. Mir war diese Handlung nicht einleuchtend, auch die Reaktion, dass die helle Glühbirne zeigt, dass es eben keinen Streik gebe, brauchte ein Sekunde oder zwei. Dann wie nebenbei berichtet der Erzähler, dass Klara in einer Art Nachlässigkeit vergisst, den Lichtschalter wieder auszuschalten. Wenige Zeilen später das kleine Detail, das großes Begreifen bringt: 

 

Auf einmal zuckte das elektrische Licht und verlöschte. Es gab ihr einen Ruck. Nein, niemand hatte es ausgeknipst […]. Unsicher sah Klara nach der Glühbirne. Ihr Herz setzte eine Sekunde lang aus, sie wagte kaum zu atmen, dann jagte das Blut heiß durch ihre Adern - das Licht flammte nicht mehr auf.

 

Der Streik hat begonnen, die Elektrizitätswerke stehen still.

Es gibt eine zweite Stelle, mit der Oskar Maria Graf seine kluge Beherrschung des Einsatzes des "telling detail" zeigt, auch wenn sie vielleicht nicht ganz in den Anschluss der oben geschilderten Szene passt. Klaras Mann Joseph, der mit allen Zweifeln an der Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie festhält, auch wenn er innerlich und auch mit seinem tatsächlichen Engagement mit einem Fuß sich bei den Kommunisten sieht, kommt in eine Situation, in der er versucht Farbe zu bekennen. Er ruft aus: 

 

"Es gibt keinen unehrlichen Kommunisten! - Rot Front!" rief Joseph unvermittelt und hob die Faust halb hoch. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben kam dieser Kampfruf über seine Lippen, und seltsam überrieselte es ihn dabei. 

 

Die Faust halb hoch. Die Spaltung der Gegenbewegung sitzt tief und Loyalitätsbindungen lähmen den Kampf. Ein schonungsloser Bericht.